Briefe an die Bewohner/innen einer Stadt
Von Ingrid Bösch
Liebe Stadtbewohner/innen!
Der Kalender zeigt auf den 18. März 2013, Montag. Es regnet. Wir, vier Frauen, packeln uns je zu zweit unter einen Regenschirm und pilgern Richtung ehemaliges Gasthaus Frohe Aussicht.
Gertraud Gächter hat in der Funktion als Kindergartenreferentin der Stadt Hohenems zur Besichtigung der Ausstellung „Projekt(t)räume“ - Anstiftung zur Wahrnehmung“ eingeladen.
Wir mischen uns unter die schon zahlreich anwesenden Kindergartenpädagog/innen. Nach einer Einführung von Gertraud stöbern wir in den Ausstellungsräumen der zwei Stockwerke. Vielfältig sind die gestalteten Objekte und Präsentationen der Bereiche Familie, Jugend, Ökologie, Wirtschaft, Soziales u. a. Die Verkehrsführungspläne für die Stadt Hohenems fanden einen sehr eigenwilligen Ort der Aufbewahrung und zur Schaustellung: die unterste Schublade einer Kommode. :-) Nach eineinhalb Stunden treffen wir vier Frauen uns im Erdgeschoss, um von dort wieder gemeinsam unseres Weges zu ziehen.
Wie wir noch kurz vor der Haustüre stehen und uns heiter, angeregt durch die vielen Eindrücke der Ausstellung, unterhalten, fällt mein Blick auf die Stirnseite der Treppenstufen. „Schaut was da steht!“ sage ich zu meinen Mitarbeiterinnen, zeige mit der Hand zur Treppe und lese laut, was da geschrieben steht.
Ehren was ist
Alles hängt zusammen
Alles bedingt sich
Ein Wert und zwei Grundannahmen. Ist das nicht, was wir ohnehin schon in der Villa Sonnenschein praktizieren und wie wir Leben verstehen?
„Das könnten wir doch übernehmen und ins blaue Farbfenster in der Garderobe schreiben, das schon seit einem halben Jahr darauf wartet, von uns gestaltet zu werden“, melde ich mich zu Wort. „Ja!“ „Super!“ „Genau!“
„Wir könnten uns doch dem Visionsprozess der Stadt Hohenems anschließen!?“
Alle sind begeistert von der Idee.
„Auf den oberen Treppen steht auch noch etwas!“, ergänzt Ayten. „Jede merkt sich einen Satz, damit wir alles genau erinnern!“
Ich springe mit der Kraft, die das Aufgehen von Türen in sich bergen kann, gleich zwei Stufen nehmend in den ersten Stock. Wieder zurück, sage ich, wie die zwei Sätze lauten, die auf der Stiege im oberen Stockwerk angebracht sind.
„Ich merke mir den untersten Satz. Ayki welchen merkst du dir?“ „Den ersten!“ „ Annabella? Monika?“ ... „Hat jemand einen Schreibstift dabei und ein Blatt Papier? Ich möchte alle Sätze aufschreiben, dass sie nicht verloren gehen auf dem Weg in die Villa Sonnenschein.“
Ich kritzle die Sätze auf den Zettel und spüre schon ein erstes leichtes Unbehagen mit den beiden Sätzen der oberen Stiege. Gertraud stößt zu uns und wir berichten von unseren Plänen. „Aahh, mit den oberen Sätzen tu ich mir schwer. Die Stadt gestaltet ... Stadt ist ein Abstraktum, sie kann nicht gestalten.“ „Ihr könnt es ja umformulieren“, antwortet Gertraud. Stille. „Gut“ sag ich und der Zettel verschwindet in meinem kleinen schwarzen Rucksack.
Wir verlassen die Frohe Aussicht (ich mag sie in der Gegenwart denken). Inzwischen hat es aufgehört zu regnen. Ich strecke meine Hände gegen den Himmel aus und rufe ihm zu: „Yes! Yes!“ Das tue ich manchmal, wenn ich mich glücklich fühle und beim Leben um noch mehr davon bitte – meine Art des Betens unter freiem Himmel.
Zwei Tage später sitze ich vor dem Computer in der Villa. Ich kaue auf den zwei Sätzen rum, die schon in der Frohen Aussicht ein Unbehagen in meinem Bauch ausgelöst hatten. Aus zwei Sätzen wird einer. Ich lasse ihn meine Mitarbeiterinnen lesen.
„Stadtgestalterinnen?“, Ayten bleibt nachdenklich, sie meldet ihre Bedenken an. Ich schwäche ab. Doch der Einwand hat bei mir Gehör gefunden und ich habe in meinen Lehrjahren mit dem Organisationsmodell „Soziokratie“ (www.soziokratie.org, www.soziokratie.com) gelernt, Einwände zu schätzen, als Förderer einer noch besseren Lösung willkommen zu heißen. Also käue ich wieder, wie die Kühe auf der Wiese. Das Ergebnis bringe ich ins nächste Team. Diesmal können alle leicht Ja zur Formulierung sagen.
Wir verstehen uns als lernender, schöpferischer Organismus, der die Stadt Hohenems mitgestaltet.
Annabella schöpft aus ihrem Talentefundus und bringt alles zusammen unter der Überschrift Vision Stadt Hohenems ins noch leere blaue Farbfenster.
Wunderbar, wir freuen uns alle. „Alles ist austragen und gebären“ hat R. M. Rilke einmal geschrieben.
Was wir als Team z. B. in Hohenems ehren/schätzen, wie die beiden Grundannahmen in unsere tägliche Praxis in der Villa Sonnenschein wirken und was wir als schöpferischer Organismus, gestärkt durch den Visionsprozess der Stadt Hohenems lernen und in der Villa Sonnenschein leben wollen, werde ich Euch in einem anderen Brief schreiben.
Visionscafé
Das Team um das Visionscafé lädt am kommenden Samstag, dem 18. Mai von 10 bis 13 Uhr ganz herzlich zur Verkaufsausstellung von Susanne Rössl ein: „Kleider zum Feste feiern und Fahrrad fahren.“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen