Türen gehen auf 25


Briefe an die Bewohner/innen einer Stadt

Von Ingrid Bösch

Liebe Stadtbewohner/innen!

Uuuhh, ja, die Tür zum Schreiben geht auf. Mein Atem geht schnell, in meinem Körper kribbelt es bis in die Fingerspitzen, Energie in deutlich spürbarer Bewegung. Die Ruhezeit zieht sich zurück.

Samstagmorgen. Ich sitze, eingehüllt in eine wärmende Decke, in einem Gartensessel auf der Terrasse. Mein Blick gleitet über die sich vor mir ausbreitenden gelb schillernden Wiesen.
Meine Aufmerksamkeit bleibt an 23 weidenden und wiederkäuenden Kühen und einer Ziege haften. Kann ich mir leisten einen ganzen Vormittag hier zu sitzen und einfach nur die Kühe zu beobachten? Mag ich den Kräften der Natur nachspüren, wie sie sich in den in voller Blüte stehenden zwei Kirschbäumen zeigen? Mag ich mir erlauben, mich in die treibenden Kräfte des noch jungen Apfelbaums hinein zu spüren oder in den schon alten und etwas knorrig anmutenden Hochstammbirnbaum? Wie fühlt sich LEBEN an, so wie es durch Bäume fließt? Allein die Fragen lösen ein kleines Erbeben in mir aus, führen zum Visionsprozess der Stadt Hohenems und zum uuhh, ja, ich will schreiben. Wie fasse ich in Worte, in Bilder, was da an Aufregung in mir wach geworden ist? Lasst mich beginnen wo/wann das, was ich jetzt spüren kann, seine Quelle findet.

Immer sind es viele Wassertropfen, die ein Gefäß füllen und doch ist es nur einer, der das Wasser irgendwann zum Überlaufen bringt. Für mich warst dieser Wassertropfen du, Gabriele Bösch. Aus jedem deiner Briefe „Türen gehen auf“ an Stadtbewohner/innen ist mir so viel Liebe fürs Detail UND fürs Ganze des LEBENS entgegen geflossen, dass ich mich entschieden habe, an der Eröffnung des Visionscafés teilzunehmen, zwei Mal an einem Samstag dort einzukehren und auch an den zwei Zukunftswerkstätten in der Otten Gravour mitzuwirken. Zum Rinnsal des überlaufenden Gefäßes gesellten sich weitere Wasser führende Spuren. Gertraud Gächter, in Funktion als Kindergartenreferentin der Stadt Hohenems, lädt alle Kindergartenpädagog/innen und Mitarbeiter/innen im Kleinkindbereich zur Ausstellung „Projekt(t)räume“ ins ehemalige Gasthaus zur Frohen Aussicht ein. Dort erzählt sie lebendig vom Visionsprozess der Stadt Hohenems aus Blick- und Erfahrungswinkel einer Angestellten der Stadt Hohenems. Danke, Gertraud. In diesem Zusammenkommen in der Frohen Aussicht (ich mag diesen Ort in der Gegenwart denken) hast du für mich eine Brücke aufgespannt zwischen den Visionsprozessereignissen in der Otten Gravour und meiner täglichen Arbeit als Pädagogin und Mitarbeiterin der Stadt Hohenems.

Inter-mezzo. Hmm? Immer noch eingehüllt in die wärmende Decke, spürend, schreibend, vernehme ich singende Stimmen aus der Ferne. Sie nähern sich. Ich lege Papier und Bleistift zur Seite, werfe die Decke auf den Lattenrost und trete ans Terrassengeländer vor. Sie sehen mich, kommen näher, bleiben beim Eingang zwei Stockwerke tiefer stehen, formieren sich in einem Halbkreis und schenken, was sie in Lehrjahren an Fertigkeiten sich erworben haben. 21 Männer, ich zähle sie und eine junge Frau, die sie dirigiert. „Mach all deine Zellen auf!“ höre ich eine Stimme in mir sagen. Der Klang ihres frohen Liedes sinkt in mich, ein Schauer durchzieht meinen Körper, Gänsehaut auf meinen Armen. „Neue Zeiten!“ hör ich mich wortlos sagen, „Zukunft und Vergangenheit reichen sich hier in der Gegenwart die Hände“. Nicht nur einmal habe ich Gruppen von Frauen erlebt, die von einem Mann unterrichtet wurden. Noch nie habe ich gesehen, wie sich eine Gruppe Männer von einer Frau leiten lässt. Tränen der Berührung sammeln sich in meinen Augen. Weit und sanft schwingt das allumfassende „sowohl als auch“ in mir nach.

Wie sich der Visionsprozess der Stadt Hohenems den Weg aus der Frohen Aussicht (ich mag sie in der Gegenwart denken) höchst kreativ und lustvoll in die Kinderbetreuung Neunteln „Villa Sonnenschein“ gebahnt hat und wie er dort die tägliche Praxis von mir und Mitarbeiter/innen beeinflusst, werde ich in einem anderen Brief an Euch schreiben.

Ingrid Bösch
aufgewachsen in Hohenems, Basislager zur Zeit in Hörbranz, seit zwei Jahren Mitarbeiterin der Stadt Hohenems

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