Alkoholprobleme: Wie die Tröpfchen-Therapie Trinkern hilft


Von Jana Hauschild

Mehr als eine Million Deutsche sind alkoholabhängig. Aber nicht einmal jeder zwölfte Betroffene beginnt eine Therapie. Dabei könnte ein umstrittener Ansatz Problemtrinker retten: Sie sollen lernen, kontrolliert zu trinken.



Nach der Arbeit brauchte Erik Herfurth* den Alkohol. Einen Schalter, um den Stress des Arbeitsalltages auszuschalten. Der Unternehmensberater war oft auf Dienstreise. Zum Abendessen im Hotel bestellte er sich immer Wein oder Bier. Ein Glas, dann zwei, dann drei oder vier - zu viele. Zu Hause war es ähnlich. Nach und nach spürte er, dass der Alkohol sein Leben bestimmt. Eine Zeitungsannonce, sagt er heute, rettete ihn. Es war die Werbung für einen 10-wöchigen Kurs zum kontrollierten Trinken.

Statt ganz auf Alkohol zu verzichten, lernen die Teilnehmer dort den Konsum einzuschränken und mit Situationen umzugehen, die bisher zum Trinkgelage führten. Das Konzept entstand in den sechziger Jahren in Australien und den USA. Ende der neunziger Jahre holte es der Psychologe Joachim Körkel nach Deutschland. Doch lange musste er gegen Widerstand und Kritik kämpfen. Dabei hatte er als psychotherapeutischer Leiter einer Suchtklinik zigmal erlebt, wie schwerabhängige Patienten nicht mit dem Gebot der Abstinenz zurecht kamen und nach der Therapie wieder zu trinken begannen. Entgegen der gängigen Erwartung - wer einmal süchtig war, kann seine Sucht niemals kontrollieren - schafften sie es aber, den Konsum über eine lange Zeit niedrig zu halten.

Lieber Konsum reduzieren, als gar nichts tun
Seit kurzem schrumpfen unter deutschen Wissenschaftlern und Therapeuten die Zweifel am kontrollierten Alkoholkonsum, während die Kritik am derzeitigen Behandlungsmodus lauter wird. Denn nur acht Prozent aller Alkoholabhängigen begeben sich in professionelle Hände. Und nur wenige profitieren von der üblichen Abstinenztherapie.
"70 Prozent aller Alkoholabhängigen erleiden im ersten Jahr nach einer Therapie einen Rückfall, im zweiten Jahr trinken sogar 90 Prozent wieder", sagt Suchtforscher Thomas Hillemacher von der Medizinischen Hochschule Hannover. "Das bisherige Konzept ist nicht ideal." Auch eine Konsumreduktion könne schon Folgen wie Leberschäden oder Krebs eindämmen und somit auch zig Todesfälle durch schädlichen Alkoholverzehr verhindern.
Abstinenz und Konsumreduktion verzeichnen ähnliche Therapieergebnisse: Beide Behandlungsansätze reduzieren gleichermaßen die Abhängigkeitssymptome, zeigen Studien. Kontrollierte Trinker kommen ähnlich viele Tage ohne Alkohol aus, wie Menschen, deren Therapie-Ziel die Abstinenz war. Abstinenzler erleben ebenso häufig Trinkabstürze wie Kontrollierer.
Etwa 10 bis 30 Prozent aller Kursteilnehmer einer kontrollierten Trinktherapie beschließen während oder nach dem Training trocken zu leben. "Doch die Entscheidung für Null-Alkohol haben die Personen selbst gefällt", sagt Körkel. "Es wurde ihnen nicht auferlegt. Daher stehen sie viel stärker hinter ihrem Entschluss."
Für viele ist der Gedanke "nie wieder Alkohol" nur schwer vorstellbar. Jeder Zweite bis Dritte, der eine Suchttherapie beginnt, die auf Abstinenz abzielt, wolle eigentlich lieber weniger als nie wieder trinken. "Wenn eine Person die Enthaltsamkeit komplett ausschließt und nur reduzieren möchte, dann sollten wir sie dabei professionell unterstützen", sagt Körkel. "Andernfalls wird sie entweder gar nichts tun oder ohne profundes Handwerkszeug den Konsum zu reduzieren versuchen - und womöglich tiefer in die Sucht hineinrutschen."

Bevor Familie und Job verloren sind
Spezielle Trainings sollen Betroffenen helfen, ihr gewünschtes Therapieziel umzusetzen. So wie Erik Herfurth. Keinesfalls wollte er auf den Genuss von Wein und Bier verzichten. Seit acht Jahren lebt er nun nach dem Konzept von Körkel.
Wie die anderen Kursteilnehmer hat er eigene Trinkregeln aufgestellt: Zu Hause ist sein geschützter Raum, dort trinkt er nie. Mindestens zwei Tage die Woche bleiben trocken. Auf Geschäftsreisen hält er sich an alkoholfreies Bier oder bleibt bei einem Glas Wein. Steht eine große Fete an, trinkt er vorher einen Liter Wasser oder Apfelschorle und dann erst ein Glas Bier - oder eben auch mal gar nichts. Mit dem Kurs, sagt er, habe er Schlimmeres verhindert.
"Wir erreichen die Menschen oft viel früher als mit der üblichen Behandlungsmethode. Also wenn die Frau und der Job noch nicht weg sind oder die Gesundheit nicht zu stark angeschlagen ist", sagt Pius Riether, der bei der Caritas in Stuttgart zweimal jährlich Kurse zum kontrollierten Trinken leitet. Die Patienten in Suchtkliniken haben oftmals schon ihre sozialen Kontakte verloren.
Wie nicht jeder abstinent leben könne, könne auch nicht jeder kontrolliert Trinken, sagt Körkel. Betroffenen, die bereits trocken leben oder auf dem Weg dorthin sind, rät der Suchtforscher von dem Schwenk zum reduzierten Konsum ab. "Abstinenz", so sagt er, "soll das erste Ziel sein". Auch bei Menschen, die wegen Alkohol gewalttätig werden, Schwangeren und bei zu starken Leberschäden würde er Enthaltsamkeit als Ziel erster Wahl sehen.  

Konsumreduktion: In Großbritannien bereits Standard
Mehrmals im Jahr werden in einigen deutschen Städten sowie in Österreich und der Schweiz die Kurse nach Körkels Konzept angeboten. Inzwischen bezuschussen hierzulande einige Krankenkassen die Teilnahme. "Aber die Versorgung übernimmt die neueren Ergebnisse der Forschung nur mit Verzögerung", sagt Suchtexperte Michael Lucht von der Psychiatrischen Universitätsklinik Greifswald. Er forscht an einer SMS-Betreuung für Alkoholabhängige, die die Trinkmenge reduzieren oder auf sehr niedrigem Niveau halten soll.
In anderen Ländern haben die Gesundheitsbehörden ihre Suchttherapie bereits für die Alternativen geöffnet. In Großbritannien und den Niederlanden gehört die Konsumreduktion inzwischen zur Standardbehandlung. Wer sich dort zum Entzug in eine Klinik begibt, kann frei entscheiden, ob er lieber gänzlich auf die Droge verzichtet oder nur die Alkoholmenge einschränken möchte. Wann das Suchtsystem in Deutschland dafür bereit ist, vermag Körkel nicht zu prognostizieren, doch er bleibt optimistisch. "Der Wandel ist zu spüren", sagt er.
*Name von der Redaktion geändert



Jana Hauschild ist Psychologin und arbeitet als freie Journalistin in Berlin.
Quelle: SPIEGELONLINE

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