Briefe an die Bewohner/innen einer Stadt
Eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen ist an Weihnachten gebunden. Dieser Moment, wenn Papa nach dem Essen im abgesperrten Wohnzimmer verschwand.
Das Warten auf das klingelnde Glöckchen. Das Aufgehen der Türe – wenn der vor Lichter strahlende Baum endlich zu sehen war. Er schien den ganzen Raum einzunehmen. Dieses Glitzern! Diese Sternchenwerfer – dieser spezielle Gestank auch! – und das Wundern, dass die Geschenke nicht Feuer fingen … Und dann, als Höhepunkt, der sechsstimmige Gesang. Und immer von irgendeinem der Satz: Du singst falsch!
Seit ich Kinder habe, habe ich versucht, diesen meinen erlebten Zauber weiterzugeben. Allein, ich kann das Wohnzimmer nicht absperren, weil die Türe fehlt. Oder anders ausgedrückt: Sie ist immer offen. So ist bei uns das Baumschmücken immer eine gemeinsame Angelegenheit. In den letzten Jahren richteten wir unseren Baum auch immer früher. Weil die ganzen Weihnachtszubehörartikel schon im September in den Geschäften bereit liegen, bin ich nämlich programmiert, dass Weihnachten erst in ein „paar Monaten“ ist – und so ist mir schon passiert, dass ich den 1. Adventsonntag völlig vergessen habe. Und damit ich Weihnachten nicht vergesse, muss der Baum vorher fertig sein, dass ich mich hinsetzen, ihn in aller Ruhe anschauen, ihn riechen und mich erinnern kann: an Opas Lametta, an meine ersten bewussten Weihnachten, an den Schlitten, mit dem wir damals von Götzis zu Fuß nach Koblach übersiedelt sind. –
Und so sitze ich jetzt, betrachte den Glanz auf den Kugeln, die Kerzen stehen noch schräg in den Haltern, da fehlt ein Ast, dort ist einer zu viel. Männer bringen nie den richtigen Baum! Ich muss lächeln bei diesem Gedanken, ich glaub, das war schon in meiner Kindheit so.
Mitten in diesem meinem Frieden beschäftigt mich aber doch eine Frage, die mir heute zugetragen wurde: Schreibt die denn diese Briefe wirklich ehrenamtlich?
Ich war einigermaßen bestürzt. Ist die Frage nach dem Geld, die einzige, die beschäftigt? Ich teile doch meine Freude, meine Hoffnung, meine Liebe! „Ja, wie kann man denn Liebesbriefe gegen Geld schreiben?“, habe ich zurück gefragt. Denn das sind meine Briefe für mich. Es ist damit so ähnlich wie bei einer Flaschenpost … ich weiß dabei nicht, wo die Briefe landen, wen sie ansprechen, wer sie versteht, in dem, was sie sind: Liebesbriefe an eine Stadt. Und „Stadt“ – das ist/sind für mich zuallererst natürlich die Menschen! Ja, schriebe ich Briefe an Häuser, dann könnte ich das auch für Geld tun. Nein, auch das kann ich nicht, für sinnlose Tätigkeiten gebe ich mich nicht her.
Sie merken, ich bin ein bisschen traurig. Aber wenn wir nicht alle zu dem Bewusstsein gelangen, dass WIR Stadt sind – dass WIR Verantwortung für uns selbst und unsere Nachkommen tragen, dann bleibt dieser Visionsprozess hängen, dann wird er verpuffen, wie viele Projekte zuvor. Dann werden auch meine Briefe, in die ich viel Zeit, Mut, Liebe und ein paar Beistrichfehler investiert habe, zu nichts tauge gewesen sein. Dann wird die Arbeit von all den anderen ehrenamtlich Tätigen umsonst gewesen sein – und auch jene Arbeit, die im Rahmen des Visionsprozesses bezahlt worden ist. Es wird keine Gewinner geben.
Es ist Samstag. In den heutigen VN sagt einer unserer Stararchitekten, der Mensch müsse essen, arbeiten, wohnen – und lieben. Das möchte ich gerne in unserer Stadt sehen. Die Liebe. Ich sitze vor meinem Christbaum und male mir aus: Die Menschen in Hohenems, die an sich selbst glauben und somit an die Stadt, die geben sich zu erkennen als wiederauferstandene Liebende. Sie kennzeichnen ihr Haus, ihre Wohnung; ich würde gerne sagen mit Sternen – aber das geht nicht, weil Weihnachten ist. Was für ein Symbol sonst könnten wir wählen? Ein Herz? Ja. Das möchte ich sehen, wenn ich in den kommenden Tagen durch Hohenems gehe, vor jeder Tür eines Mitvisionärs, ein Herz. Das sinnvollste Erkennungszeichen, um die hohe Beteiligung am gemeinsamen Visionsprozess jetzt schon sichtbar zu machen!
Den Denkern unter Ihnen lege ich einen Artikel zu neuen Perspektiven im Städtebau, den ich beim Stöbern nach neuen Büchern in der NZZ gefunden habe, an selbiges Herz: http://tinyurl.com/bq2p66y
Darin heißt es: „Aber auch wenn Städte sich wandeln, bleiben sie Orte des (kollektiven) Erinnerns und Erkennens, Orte, an denen emotionale Bindungen hergestellt werden. Identität und Heimat – Begriffe, die solche Qualitäten einer Stadt bezeichnen sollen – basieren jedoch nicht allein auf der Vertrautheit einer über lange Zeit in ihren wesentlichen Merkmalen kaum veränderten Lebensumwelt, sondern sind auf spezifische atmosphärische Qualitäten einer Stadt, eines Quartiers oder einer Region zurückzuführen. Deshalb ist nicht allein das baukulturelle Erbe maßgebend, sondern auch die Fähigkeit, durch Städtebau neue überzeugende, im besten Falle unverwechselbare Stadtatmosphäre zu kreieren.“
Als ich mit diesen Briefen begann, ohne zu wissen, wohin mich das führen wird, fragte man mich: Warum tust du das, Gabi, warum schreibst du nicht an einem neuen Buch? Hm, sagte ich, das ist ein neues Buch, das ist eine neue Ge-schichte. Ich glaube.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen noch schöne Adventstage – und ein liebevolles Weihnachtsfest, mit Herzen aus Papier, Filz, Ton, Stroh – aus was auch immer Sie zur Verfügung haben. Das Material ist nicht wichtig. Es zählt die Botschaft: Ich bin da, für mich und deshalb auch für dich.
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