Die Bilder aus der Türkei sind erschreckend in ihrer Grausamkeit. Hotelhallen, in denen das Tränengas in Schwaden steht, Ärzte, die in Handschellen abgeführt werden, erschöpfte Menschen auf Kaffeehaussesseln. Und trotzdem gehen immer wieder Tausende auf die Straße - und die Machthaber greifen zu immer brutaleren Mitteln, um sie davon abzuhalten. Man nennt sie Terroristen und droht mit dem Einsatz der Armee.
Was gerade in der Türkei geschieht, ist allerdings alles andere als ein Einzelfall. In jüngster Zeit gehen die, die keine Macht haben, in vielen Teilen Europas zu Zehntausenden auf die Straßen. Vor etwas mehr als einem Jahr sah man sie in Moskau einen Park besetzen und sich gegen die Repressalien des Herrn im Kreml protestieren - jetzt passiert das Gleiche in der Türkei. Und auch wenn es in jedem Land andere Auslöser für die Proteste gibt, so ist ihnen allen doch eines gemeinsam: die tiefe Unzufriedenheit und Unsicherheit derer, die auf die Straßen gehen und die tiefe Unsicherheit und Ratlosigkeit jener, gegen die sich der Protest richtet.
In jedem Fall erscheint es unwahrscheinlich, dass eine für beide Seiten akzeptable Lösung möglich ist. Das hat viele Gründe: Der wichtigste dürfte sein, dass der Protest zwar aus tiefer Unzufriedenheit heraus entsteht, dass es den Protestierenden kaum gelingt, echte Alternativen anzubieten. Viel zu heterogen sind die Gruppen, die da nur einen gemeinsamen Nenner finden - die Forderung nach Ablösung der derzeit Mächtigen. Mehr politische Konzepte sind in der Türkei heute ebenso wenig vorhanden, wie sie bisher vonseiten der Opposition in Putins Russland vorgebracht werden konnten. Das aber setzt den Protesten auch gewisse Grenzen - und wäre eigentlich jener Punkt, an dem die Machthaber ansetzen müssten. Die allerdings erscheinen steif vor Angst vor diesen selbst relativ ratlosen Protestbewegungen und wissen es nicht besser, als auf blanke Gewalt zu setzen. Was den Protestierenden wiederum immer neue Vorwände für ihren Protest liefert. So dreht sich die Spirale der Gewalt weiter.
In Russland, wo die Protestbewegung sicher weniger stark ist als zurzeit in der Türkei, hätte es nicht jener absurden Gesetze bedurft, mittels derer jetzt sämtliche Kritiker endgültig mundtot gemacht werden, um wieder Ruhe zu schaffen. Und wahrscheinlich wäre es auch in der Türkei möglich, Lösungen zu finden - wenn die angegriffenen Mächtigen sich nicht so unglaublich vor denen fürchteten, die in Wirklichkeit vor allem ihre eigene Machtlosigkeit auf die Straße treibt.
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