Briefe an die Bewohner/innen einer Stadt
Von Gabriele Bösch
Mens sana in corpore sano.
In einem kranken Körper steckt vermutlich tatsächlich kein gesunder Geist. Während meiner Fieberschübe vermischten sich in mir Dinge, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben.
Vielleicht konnte das aber nur geschehen, weil ich mich immer wieder mit jenen pharmazeutischen Komplexen aufputschte, die den Schleim und den Husten für exakt vier Stunden ausschalten, um meinen Pflichten nachzukommen.
Am Montag war ich zum ersten Mal im Krematorium, nahm Abschied von meiner Großmutter. Dieser tote Körper. Was lebendig bleibt, sind die Erinnerungen. Und die kann man auswählen, dachte ich. Und weinte doch. Über die versäumten Möglichkeiten.
Wenn der Geist müde wird, wird der Körper krank.
Danach legte ich mich wieder ins Bett, fieberte weiter. Ich wusste nicht, dass Haut so schmerzen kann, dass es wehtun kann, sich anzuziehen, dass man übers Atmen allein ins Keuchen gerät. Die ganze Wahrnehmung ist plötzlich auf das gerichtet, was nicht funktioniert: der Körper. Wo war mein Geist hin entschwunden? Oder ist es vielmehr so, dass der Geist müde ist, darum wird der Körper krank?
Der Körper einer Stadt besteht aus den Gebäuden und den Räumen dazwischen. Wie oft habe ich reden hören, von der toten Innenstadt. Wann sind die Geister ermüdet? Warum sind sie ermüdet? Verletzte Menschen, überlastete Menschen, ungehörte Menschen, ungeliebte Menschen geben auf. Die Klagemauer (Brief 4), dachte ich, sie ist noch nicht errichtet.
Am Donnerstag warf ich mir wieder zwei Tütchen ein, für die Beerdigung. Kälte, Schnee-gestöber und Leichenschmaus. Drei Generationen am Tisch. Ich betrachtete die Jugend, die Generation, die nichts von den Geschichten weiß, die nichts von den Verletzungen weiß, die sich nur fragt, weshalb der eine nicht mehr mit dem anderen spricht. Darüber spricht man nicht. Über die Toten nur Gutes.
Echt, Mama? Fragte zu Hause mein Sohn. Das sei einfach nur Scheiße. Er hat natürlich Recht. Es gehörte alles auf den Tisch, an die Wände geklatscht, damit es aufbricht. Damit man weinen kann, das Versäumte betrauern. Es wächst kein Frieden aus dem, was unter den Tisch gekehrt wurde. Es gärt. Über Generationen hinweg beschneiden wir die Wurzeln unserer Kinder, beschneiden wir ihre Möglichkeiten.
Aufarbeitung der Geschichte
Hohenems wächst an seinen Rändern, es wird gebaut wie verrückt – eine „Jugend“ entsteht. Eine Jugend, die vielleicht auch nicht versteht, warum es so schwer ist, in diese Stadt hineinzuwachsen, die sich auch fragt, was da eigentlich geschehen ist, warum es keine Anbindung an den Kern gibt.
Bei uns war die Großmutter der Kern. Sie hätte die Macht gehabt, diese Familie zu einen. Zwei Weltkriege, in den ersten war sie hineingeboren, den zweiten hat sie überlebt. Warum aber ist sie die Haltung des Kampfes nie losgeworden? Wogegen hat sie gekämpft, da ihre Kinder sie doch liebten? Warum war sie nicht fähig, diese Liebe zu sehen und anzunehmen?
Im Fieber ist alles einfach. Das Fieber flüstert ein: Du kannst die Liebe der anderen nicht annehmen, wenn du das Gefühl hast, der Liebe nicht wert zu sein. Warum hast du das Gefühl, nicht wert zu sein? Weil du eine Schuld fühlst. Behältst du diese Schuld als Geheimnis für dich, wirst du dein Leben lang kämpfen, sie verdeckt zu halten. Wenn du einmal sagst, ich habe Unrecht getan, es tut mir leid, dann kann man zusammen weinen und sich versöhnen. Dann kann die Liebe wieder fließen, in beide Richtungen. Dann kann man als Familie ein Haus bauen, eine ganze Stadt.
Das ist es wohl, warum andere Städte erst zu florieren begannen, nachdem sie ihre NS-Kriegs-Geschichte aufgearbeitet hatten. Es geht dabei nicht ums Anklagen, es geht ums Verstehen, ums Versöhnen, ums Vereinen. Für manche alte Menschen gälte es vermutlich noch zu sagen: Es tut mir leid. Für manche Jüngere gälte es zu sagen: Ich war loyal zu meinen Eltern, jetzt sind sie tot, ich will ihren Kampf nicht aufrechterhalten, es ist nicht meiner. Und für die Jungen gälte es, Fragen zu stellen und die Antworten anzunehmen, ohne zu verurteilen. Denn erst wer in derselben Situation ist wie ein anderer, weiß, wie er selbst handelt.
Wie ich da saß, am Tisch mit den drei Generationen, in Anbetracht der Jugend, dieser Kraft und Fülle, dachte ich: Oma schau doch von oben, so viel Schönes ist da nachgewachsen!
Wir können als Stadt aber auch auf die fünfte Generation warten. Es ist erwiesen, dass es für eine Gesellschaft fünf Generationen braucht, bis Kriegsgeschehnisse und ihre systemischen Wirkungen „verdaut“ sind. Aber da es jetzt immer mehr Menschen gibt, die sich für eine Vision Hohenems engagieren, finde ich, es ist an der Zeit, einen Historiker zu beauftragen, die alten Geheimnisse, die persönlichen Geschichten zusammenzutragen, sie niederzuschreiben. Auf dass sie Kompost sind, dem, was endlich blühen will. Außerdem gibt es immer jene Familienmitglieder, die aus einer alten Schuld etwas Gutes gedeihen lassen, etwas, das sonst vielleicht gar nicht möglich gewesen wäre. Und das soll in diesem Zusammenhang auch geehrt werden!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen