Ein Lehrstück über unser tägliches Grundnahrungsmittel
von Christian Parenti
Was kann uns ein einfaches Brot über die Welt mitteilen? Weit mehr, als wir uns vorstellen. Das hat einen schlichten Grund. Ein Brot lässt sich "lesen" wie die Kernprobe einer Bohrsonde, die verschiedene Schichten unserer krisenverhärteten Weltwirtschaft abbildet. Anders formuliert: Am Brot lassen sich die wichtigsten Konfliktlinien der Weltpolitik aufzeigen, bis hin zu den Ursachen des "arabischen Frühlings", der seine Fortsetzung in einem Sommer der sozialen Unruhen gefunden hat.
Beginnen wir mit den Fakten: Zwischen Juni 2010 und Juni 2011 hat
sich der Weltmarktpreis für Getreide nahezu verdoppelt, was für viele
Regionen unserer Erde eine Katastrophe ist. Im selben Zeitraum wurden
mehrere Regierungen gestürzt, kam es in vielen Hauptstädten - von
Bischkek bis Nairobi - zu gewaltsamen Protesten und in mehreren Ländern
wie Libyen, Jemen, Syrien und Sudan zu neuen Bürgerkriegen. Neuerdings
rebellieren sogar die Beduinenstämme auf der Sinai-Halbinsel gegen die
ägyptische Interimsregierung und errichten Straßensperren, die sie mit
bewaffneten Posten absichern.
Bei all diesen Konflikten hatten die ersten Proteste mehr oder
weniger mit dem Preis des besagten Brotlaibs zu tun. Und auch wenn man
bei diesen Unruhen nicht von Ressourcenkonflikten im wörtlichen Sinne
sprechen kann, war ihr Auslöser doch die Brotfrage.
Brot gilt seit jeher als Grundstoff des Lebens. In weiten Teilen der
Welt ist es das Grundnahrungsmittel schlechthin, denn nur der tägliche
Laib Brot bewahrt Milliarden Menschen vor dem Verhungern. Bevor wir
jedoch die weltpolitische Lage von einem Laib Brot ablesen können, gilt
es die Frage zu beantworten: Was genau ist eigentlich in diesem Laib
enthalten? Natürlich Wasser, Salz, Hefe, und vor allem Weizen. Daraus
folgt, dass mit anziehenden Weltmarktpreisen für Weizen auch der Preis
für einen Brotlaib steigt - und die Wahrscheinlichkeit von Protesten.
Wer allerdings meint, dass sich Brot nur aus diesen materiellen
Bestandteilen zusammensetzt, hat von der modernen globalen
Agrarwirtschaft nichts verstanden. Mit der Mechanisierung hat sich
anstelle der Arbeit auf dem Feld die Fabrikarbeit durchgesetzt. Die
Heerscharen von Bauern, die früher das Getreide von Hand aussäten und
die Ernte einbrachten, sind längst durch Industriearbeiter ersetzt, die
Traktoren und Erntemaschinen herstellen. Und ohne Substanzen wie
Dieseltreibstoff, chemische Pflanzenschutzmittel und Stickstoffdünger,
die allesamt aus Rohöl gewonnen werden, könnte man kein Getreide
erzeugen, verarbeiten oder über alle Kontinente und Ozeane
transportieren.
Mit Hightech über den Acker
Ein weiterer wesentlicher Bestandteil des Brots ist der Faktor
Arbeit, wenn auch nicht unbedingt in der Form, die man sich vorstellt.
Seit die Mechanisierung die Landarbeiter verdrängt hat, kommt
Arbeitskraft auf dem Kornfeld fast nur noch in Form von Technologie zum
Einsatz. Heute kann ein einziger Arbeiter am Steuer eines riesigen,
300.000 Euro teuren Mähdrescher sitzen, der täglich 750 Liter Diesel
verbraucht, durch GPS-Navigationssysteme gesteuert wird und der pro
Stunde 8 Hektar aberntet. Das entspricht einer Tagesernte von bis zu 300
Tonnen.
Der nächste Faktor ist das Geld: Unseren Brotlaib würde es ohne
Kapitaleinsatz nicht geben, denn der Produzent muss vorweg Saatgut,
Dünger, Treibstoff, den Mähdrescher und alles weitere kaufen. Noch
massiver dürfte der indirekte Einfluss sein, den das Geldkapital auf den
Preis unseres Brotlaibs ausübt. Wenn im globalen Finanzsystem zu viel
liquides Kapital in Umlauf ist, beginnen Spekulanten die Preise der
verschiedensten Güter und Rohstoffe in die Höhe zu treiben, und das
betrifft auch die genannten Bestandteile des Brots. Derartige
Spekulationen lassen natürlich die Sprit- und Getreidepreise steigen.
Für weitere entscheidende Zutaten sorgt die Natur: Sonnenlicht,
Sauerstoff, Wasser, nährstoffreicher Boden, alles zur rechten Zeit und
in der richtigen Menge. Hinzu kommt noch ein - inzwischen unübersehbar
gewordener und nicht ganz naturgegebener - Faktor: der Klimawandel. Er
schlägt erst allmählich voll durch und wird sich als zunehmend
destabilisierend erweisen, indem er die künftige Versorgung des Markts
mit Brot dramatisch gefährdet.
Wenn das Zusammenspiel dieser Faktoren den Brotpreis in die Höhe
schießen lässt, kommt die Politik ins Spiel. Wie etwa bei der Rebellion
in Ägypten, dem zentralen Ereignis des "arabischen Frühlings". Ägypten
ist der größte Weizenimporteur der Welt, Algerien und Marokko liegen nur
knapp dahinter. Es sei auch daran erinnert, dass der arabische Frühling
in Tunesien begann, wo steigende Lebensmittelpreise, die hohe
Arbeitslosigkeit und die wachsende Kluft zwischen Reichen und Armen zu
gewaltsamen Straßenunruhen führten, die den autokratischen Herrscher
Zine Bin Ali aus dem Land fegten. Dessen letzte Handlung war das
feierliche Versprechen, die Preise von Zucker, Milch und Brot zu senken.
Aber das war "too little too late".
Kurz darauf begannen die Proteste in Ägypten, und die algerische
Regierung genehmigte zusätzliche Getreideimporte, um die wachsende
Unruhe über die Nahrungsmittelpreise abzufangen. Der Brotverbrauch der
Ägypter ging aufgrund des teurer gewordenen Weizens (in der zweiten
Jahreshälfte 2010 um 70 Prozent) deutlich zurück. Die Ökonomen sprechen
in einem solchen Fall von "price rationing", einer "vom Preis
erzwungenen Rationierung". Der Trend setzte sich das ganze Frühjahr 2011
über fort. Im Juni 2011 lag der Einkaufspreis für Weizen 83 Prozent
höher als ein Jahr zuvor. Im selben Zeitraum war der Maispreis sogar um
93 Prozent gestiegen - Ägypten ist der viertgrößte Maisimporteur der
Welt.(1)
Mit dem rapiden Anstieg der Weizen- und Maispreise war für die
Armutsbevölkerung in Ägypten nicht nur ihr Lebensstandard, sondern ihr
Leben überhaupt in Gefahr, weil die Preissteigerungen auch gewaltsame
politische Auseinandersetzungen zur Folge hatten.
In Ägypten leben 20 Prozent der Bevölkerung in extremer Armut, das
heißt, sie haben weniger als den Gegenwert von einem US-Dollar pro Tag
zur Verfügung. Die Regierung muss 14,2 Millionen Menschen (bei einer
Gesamtbevölkerung von 83 Millionen) mit subventioniertem Brot versorgen.
Im Lauf des Jahres 2010 stiegen die Preise für Grundnahrungsmittel um
mehr als 20 Prozent. Für die ägyptische Durchschnittsfamilie war das
eine schwere Belastung, muss sie doch 40 Prozent ihres dürftigen
Einkommens für die tägliche Ernährung ausgeben.
Vor diesem Hintergrund macht sich Weltbankpräsident Robert Zoellick
große Sorgen, dass der nächste Schock die Welternährung in eine tiefe
Krise stürzen wird. Dass eine solche Krise unmittelbar bevorsteht, hat
eindeutig ökologische Ursachen. Die wichtigste ist der Klimawandel:
Überall auf der Welt entstehen immer häufiger extreme Wetterlagen, die
verheerende Folgen für die Landwirtschaft haben.
Sehen wir uns an, was das konkret für unser Brot bedeutet: Im Sommer
2010 kam es in Russland, einem der größten Weizenexporteure der Welt,
zur schlimmsten Dürre seit hundert Jahren. Die extreme Wetterlage, auch
Schwarzmeerdürre genannt, führte nicht nur zu verheerenden Waldbränden,
sondern ließ auch das Ackerland austrocknen. Die Schäden für die
Weizenernte waren so gravierend, dass die russische Führung - zur großen
Freude westlicher Getreidespekulanten - ein einjähriges Exportverbot
für Weizen verhängte. Die Folge war ein rasanter Preisanstieg.
Spekulation mit dem Klimawandel
Im selben Jahr kam es in Australien - ebenfalls ein wichtiger
Weizenexporteur - zu furchtbaren Überschwemmungen. Im Mittleren Westen
der USA und in Kanada beeinträchtigten schwere Regenfälle die Maisernte.
Und die Jahrhundertflut in Pakistan, die ein Fünftel des Landes unter
Wasser setzte, verschreckte die Märkte und ließ die Spekulanten
frohlocken.
In ebendieser Situation schossen in Ägypten die Lebensmittelpreise
erneut in die Höhe. Die anschließende Krise - ausgelöst unter anderem
durch den teurer gewordenen Laib Brot - mündete in den Aufstand, der das
Mubarak-Regime zu Fall brachte. Die Ereignisse in Tunesien und Ägypten
strahlten auch auf das Nachbarland Libyen aus, wo der Ausbruch des
Bürgerkriegs zur Intervention der Nato führte, was den fast
vollständigen Ausfall der libyschen Ölproduktion von täglich 1,4
Millionen Barrel zur Folge hatte. Das ließ den Preis für Rohöl auf bis
zu 125 Dollar pro Barrel ansteigen, was wiederum eine neue
Spekulationswelle auf den Nahrungsmittelmärkten auslöste, die den
Getreidepreis weiter in die Höhe trieb.
In den letzten Monaten hat sich die Lage kaum entspannt. Die Ernten
in Kanada, den USA und Australien haben unter weiteren schweren
Überschwemmungen gelitten. Auch in Nordeuropa hat die unerwartete
Trockenheit im Frühjahr die Getreideproduktion beeinträchtigt. Die
wachsende Nachfrage, höhere Energiepreise, zunehmende Wasserknappheit
und vor allem die chaotischen Klimaveränderungen treiben das
Welternährungssystem in die Krise, wenn nicht den Zusammenbruch.
Und das ist nur der Anfang, sagen die Experten. Sie gehen davon aus,
dass der Brotpreis in den nächsten zwanzig Jahren um bis zu 90 Prozent
steigt. Die absehbaren Folgen wären weitere Unruhen und Proteste, mehr
Verzweiflung, verschärfte Wasserkonflikte, noch mehr Migration,
Ausbrüche ethnisch und religiös motivierter Gewalt bis hin zu
Bürgerkriegen, eine wachsende Bedrohung der Handelswege durch
Räuberbanden und Piraten. Und womöglich auch - wie die Vergangenheit
lehrt - zahllose neue Interventionen durch imperiale oder auch regionale
Mächte.
Und wie reagieren wir auf die Krise, die sich da zusammenbraut? Gibt
es eine breite internationale Initiative, um die Armen dieser Welt mit
Grundnahrungsmitteln zu versorgen, oder anders gesagt, um einen
erschwinglichen Preis für unseren Laib Brot festzusetzen? Wir kennen die
traurige Antwort.
Aber dafür werden andere aktiv: Großkonzerne wie Glencore (weltweit
größter Rohstoffhändler mit Sitz in der Schweiz) und das von der
Öffentlichkeit kaum beachtete Familienunternehmen Cargill (weltweit
größter Händler mit Agrargütern mit Hauptsitz in Minneapolis, USA) sind
eifrig dabei, ihre Herrschaft über den Weltgetreidemarkt abzusichern.
Zugleich betreiben sie die vertikale Integration ihrer weltumspannenden
Versorgungsketten in Form eines neuen Nahrungsmittelimperialismus, der
darauf angelegt ist, das globale Elend zum eigenen Vorteil auszubeuten.
Während im Mittleren Osten die Brotfrage zu einem Auslöser von Kriegen
und Revolutionen wurde, konnte Glencore dank explodierender
Getreidepreise Extraprofite machen. Kurzum: Je teurer ein Laib Brot
wird, desto mehr Geld können Multis wie Glencore und Cargill scheffeln -
eine grauenvolle Art der "Anpassung" an die Klimakrise.
Fußnote: (1) Zu den fünfzehn größten Maisimporteuren gehören auch Algerien, Syrien, Marokko und Saudi-Arabien.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Christian Parenti schreibt für "The Nation, "Fortune, die "New York Times und "Mother Jones. Vor Kurzem erschien: "Tropic of Chaos: Climate Change and the New Geography of Violence" (Nation Books).
© Agence Globale, für die deutsche Übersetzung "Le Monde diplomatique, Berlin
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