Türen gehen auf 6

 

Briefe an die Bewohner/innen einer Stadt

Von Gabriele Bösch 

Wenn ich einen Schreibworkshop beginne, egal ob mit jungen oder alten Menschen, dann bringe ich meistens vorbereitete Tablette mit. Darauf liegen nicht mehr als fünf oder sechs Dinge. Die allererste Übung vor dem Schreiben besteht immer darin, hinzusehen. Sand. Ein Stein. Eine Muschel. Eine Perle. Ein Stück Holz. Dann darf man die Gegenstände in die Hände nehmen, sie spüren, an ihnen riechen, sie zum Klingen bringen. Danach erst beginnen wir, all die Wörter zu suchen, die in diesen Gegenständen, zwischen ihnen, über und unter ihnen existieren. Da ist ein Rot, dort eine Narbe, ein Grübchen, ein Eindruck, eine Erinnerung, hier ein Klingen und da ein Nachhall. Erst wenn wir uns er-leben in diesen Dingen schreiben wir die Wörter und alles, was uns dazu einfällt auf. Am dritten Nachmittag beginnen wir, daraus einen Text zu gestalten. 

Seit ich mich selbst mit diesem Visionsprozess beschäftige, denke ich über die Schnelligkeit oder Langsamkeit nach, in der dieser Prozess vor sich gehen soll. Ich denke, wir brauchen die Zeit, die wir brauchen. Wer denn wollte uns verurteilen, dass wir zu langsam seien? Wir, wir alle zusammen sind die Stadt. Wollten wir uns denn selbst verurteilen? Das wäre Unsinn. Und die anderen? Ich persönlich höre bis jetzt nur wohlwollendes Hinschauen auf uns: In Hohenems geht echt etwas weiter! Obwohl man noch gar nichts sieht, wird wahrgenommen, dass die Emser an sich selbst arbeiten, an sich als Stadt. Warum ist das so, frage ich mich. Und komme zu der Antwort, dass das so ist, weil wir die richtigen Fragen stellen: nach den Talenten unserer Stadt, nach ihrer Schönheit, nach ihren Möglichkeiten.

Emotionen sind an Werte gebunden

Es gab immer schon Visionäre in Hohenems. Nehmen wir z. B. Gerd Nachbauer. Wie konnte ein Einzelner die Schubertiade für Hohenems erfinden? Häuser umbauen, Museen einrichten? Nur aus Geschäftssinn? Nein, behaupte ich, obwohl ich noch nie ein persönliches Gespräch mit ihm geführt habe. Am Anfang, denke ich, stand garantiert die Liebe. Die Liebe zur Musik, zur Musik Schuberts im Speziellen, zu den Liedtexten. Am Anfang stand ein Sinn für Schönheit, ein feines Gehör – ein Genuss und eine Sehnsucht. Und das feine Gehör wurde durch oftmaliges Hinhören nochmals verfeinert, der Genuss vervielfacht. Damit erhöhte sich auch die Sehnsucht – und dann erst, nehme ich an, fragte er sich: Wie, wie mach ich das für Hohenems, wie fange ich das an? Da aber war sein Herz schon längst Feuer und Flamme, ein solches Herz ist nicht mehr zu bremsen.
Das müssen auch wir gemeinsam entdecken, diese Vision, in der unsere Herzen brennen – oder wir den Atem anhalten, das ist beinah dasselbe. Das, was uns auf diese schöne Weise den Atem raubt, gibt uns umgekehrt die Kraft, in es hineinzugehen, es umzusetzen in Taten. Fühlen Sie hin, in Ihre persönliche Vision, und wenn sie eine tiefe Freude an ihr verspüren, dann kann sie nur richtig sein. In den letzten Wochen habe ich die Erfahrung gemacht, dass in den verschiedensten Runden sich Bedürfnisse immer wieder decken, dass es dieselben Freuden sind, die wir an einer beginnenden Vision empfinden – es gibt ihn, den Geist unserer Stadt. Das macht mich sehr zuversichtlich.
Letzthin bin ich dann auch ganz langsam durch die Mondscheingasse gegangen. Da steht ein kleiner Rest einer Mauer. Bewachsen mit den unterschiedlichsten Sorten von Moos. Ich liebe alle Moose. Ganz spontan verspürte ich den Drang, diese Mauer einzurahmen, wie ein Bild. Es gibt jedoch Schönheiten, die brauchen keinen Rahmen.
Dann ging ich durch die Marktstraße, von der es heißt, sie sei tot. Vereinzelte Geschäftsnamen, Sie kennen sie alle. Auf zwei leeren Fensterfronten jedoch stand „Grabher“. Hm, dachte ich, es müsste genau umgekehrt sein. Es müssten die Namen derjenigen Menschen, die tatsächlich in der Gasse wohnen groß auf die Fassaden geschrieben werden, damit man sehen kann, dass sie belebt ist. Oder wie schön wäre es, wenn die Fotos der Bewohner an den Wänden hingen? Dann hätte ich vielleicht auch Mustafa Can gefunden, bei ihm geklingelt, mich selbst zum Çay eingeladen. Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt, ist sein Motto.
Und unsere Reise beginnt mit dem Hinsehen, Hinhören, Hinspüren. Und erst wenn wir alle Wörter, Begriffe gefunden haben, dann beginnen wir, sie zu vernetzen. Gegenseitige Inspiration der Gegenstände. Gegenseitige Inspiration der Menschen. Und dann erst können wir unsere neue Geschichte schreiben. Aus der ganzen Fülle.
Aus dieser Fülle wünsche ich Ihnen eine schöne stille Zeit! Und noch einmal bedanke ich mich, dass Sie mir zuhören. Wenn Sie die Briefe nachlesen wollen, sie sind alle online auf www.hohenems.at zu finden.

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