Der Super-Klick
Wie Hochfrequenzhandel funktioniert
von John Lanchester
Am frühen Nachmittag
des 6. Mai 2010 begann der wichtigste
Aktienindex der USA, der Dow Jones Industrial Average
(DJIA), plötzlich zu fallen.
Es gab keinen plausiblen Anlass für diesen Absturz, weder alarmierende Nachrichten noch neue Wirtschaftsdaten. Dennoch viel der Dow Jones, der seit Börsenöffnung nur langsam nachgegeben hatte, binnen Minuten um volle 6 Prozent. Es war das reinste Chaos: Einige Aktien wurden zum Preis von 1 Cent gehandelt, andere für exorbitante 100 000 Dollar, beides ohne erkennbaren Grund. In einer Viertelstunde summierten sich die Kursverluste auf rund 1 Billion Dollar.
Es gab keinen plausiblen Anlass für diesen Absturz, weder alarmierende Nachrichten noch neue Wirtschaftsdaten. Dennoch viel der Dow Jones, der seit Börsenöffnung nur langsam nachgegeben hatte, binnen Minuten um volle 6 Prozent. Es war das reinste Chaos: Einige Aktien wurden zum Preis von 1 Cent gehandelt, andere für exorbitante 100 000 Dollar, beides ohne erkennbaren Grund. In einer Viertelstunde summierten sich die Kursverluste auf rund 1 Billion Dollar.
So weit, so merkwürdig. Nun war es aber keineswegs so, dass
dergleichen noch nie vorgekommen wäre. Auf den Märkten passieren seltsame
Dinge, oft nur aufgrund einer Massenhysterie. Nicht umsonst heißt Charles
Kinderlebergers berühmtes Buch über die Geschichte der Finanzkrisen „Manias,
Panics and Crashes“.1 Doch das
eigentlich Bizarre und Einmalige an diesem 6. Mai 2010 war, was nach dem
Absturz geschah: Die Kurse erholten sich genauso schnell, wie sie abgeschmiert
waren. Nach 20 Minuten Höllentrip war der Dow Jones auf sein Ausgangsniveau
zurückgekehrt. Der Weltuntergang? Warte mal, nein, nur ein ganz normaler
Börsendonnerstag.
Die Episode wurde bekannt als der „Flash Crash“. Als Grund
für diesen Blitzcrash ermittelte die US-Börsenaufsicht SEC (Securities and
Exchange Commission) in ihrem offiziellen Bericht eine einzige schlecht getimte
Aktientransaktion von ungewöhnlich großem Volumen. Aber diese Erklärung konnte
kundige Beobachter nicht überzeugen. Viele Börsenexperten gaben die Schuld
vielmehr jener neuartigen Finanztechnologie, die als Hochfrequenzhandel (HFH)
oder „Flash Trading“ bezeichnet wird. Die tatsächliche Ursache ist bis heute
heftig umstritten. Daraus kann man schließen: Wir haben es mit einem Phänomen
zu tun, das im Grunde niemand richtig versteht. Beruhigend ist das nicht.
Mit dem Flash Crash von 2010 geriet der Hochfrequenzhandel
erstmals ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. Diese neue Art des
Aktienhandels war dermaßen angewachsen, dass der Aktienhandel zum Großteil
nicht mehr von Menschen abgewickelt wurde, die mit anderen Käufe und Verkäufe
vereinbarten, sondern von Computern ganz ohne menschliche Beteiligung (von
deren Programmierung einmal abgesehen). 2008 geschahen bereits 65 Prozent der
Transaktionen an den Wertpapierbörsen der USA auf diese Weise. Die Kauf- und
Verkaufsorders von leibhaftigen Maklern machten nur ein Drittel der
Börsenumsätze aus.
Die Computer vollzogen (und vollziehen) die Transaktionen
innerhalb von Tausendstelsekunden, wobei sie winzige Preisdiskrepanzen
ausnutzen, um einen garantierten Profit zu erzielen. Über die genauen Details
wusste kaum jemand Bescheid – das heißt: nur die Leute, die damit viel Geld
verdienten und allen Grund hatten, ihre Kenntnisse für sich zu behalten. Der
Flash Crash machte auf dramatische Weise klar, dass sich das Geschehen an den
Aktienmärkten, deren Funktionieren ja auf den Prinzipien von Offenheit und
Transparenz beruht, mittlerweile großteils im Geheimen und im Dunkeln abspielt.
Hier kommt Michael Lewis ins Spiel. Sein Buch „Flash Boys“2 stellt dar, was genau sich an den
Börsen abgespielt und wie Hochfrequenzhandel funktioniert. Es liest sich wie
ein Thriller und ist auch so konzipiert: Ein Held muss ein Rätsel lösen. Der
Held ist ein kanadischer Banker namens Brad Katsuyama, und das Rätsel sieht auf
den ersten Blick nicht kompliziert aus. Katsuyama arbeitete als Wertpapierhändler
bei der Royal Bank of Canada an der Wall Street. Dabei stieß er immer wieder
auf dasselbe Problem: Sobald er an seinem Computer eine Aktie kaufen wollte,
änderte sich der Kurs in dem Moment, in dem er den Kauf per Mausklick
ausführte. Der angezeigte Marktpreis lies sich also nicht realisieren. Er
besprach die Sache mit den Computerexperten seiner Bank, die zunächst ihm die
Schuld gaben. Aber sie verstummten, als er ihnen das Problem vorführte und sie
sehen konnten, wie sich der Kurs mit dem „Enter“-Klick änderte.
Katsuyama kam dahinter, dass „sein“ Problem den ganzen
Finanzsektor betraf. Der Preis war nicht der Preis. Das Bild vom Aktienmarkt,
das sich in festen, über den Bildschirm wandernden Preisen darstellt, war eine
Illusion. Der wirkliche Markt war für ihn gar nicht greifbar. Viele seiner
Kollegen müssen sich gefragt haben, was da eigentlich los war, aber nur
Katsuyama lies nicht locker, bis er die Antwort gefunden hatte. Die erschloss
sich ihm allerdings erst, nachdem er die Frage korrekt formuliert hatte: Was
zum Teufel ist eigentlich der Markt?
Der Markt ist zu einer puren Abstraktion geworden, erkannte
Katsuyama, und es gab kein überzeugendes Bild, das die alte Vorstellung in den
Köpfen der Leute ersetzen konnte: „Nach wie vor lief dasselbe alte Tickerband
wie eine endlose Fußnote über die Bildschirme, obwohl die Zahlen nur einen
winzigen Teil des tatsächlichen Geschehens abbildeten. Die Finanzmarktexperten
berichteten noch immer immer vom „Parkett“ der New Yorker Börse, obwohl sich
der Handel gar nicht mehr dort abspielte. Wenn ein Analyst wirklich das Innere
der Wall Street erkunden wollte, musste er zu einem großen schwarzen Turm aus
Computer-Servern vordringen, der in Mahwah, New Jersey, in einer Art Festung
untergebracht ist, bewacht von einer kleinen Armee schwerbewaffneter Männer und
einer Meute extrem scharfer Deutscher Schäferhunde. „
Dieser Analyst müsste, um den Aktienmarkt zu überblicken –
oder auch nur den Handel mit den Aktien eines Unternehmens wie IBM -, sich
Computerausdrucke von zwölf anderen Handelsplattformen beschaffen. Wobei er
schnell merken würde, dass es gar keine gibt, zumindest keine mit verlässlichen
Zahlen. Kurzum: „Es war offenbar nicht möglich, sich ein Bild vom neuen
Finanzmarkt zu machen.“
Unsere Vorstellung von einem Markt besteht aus Leuten, die
untereinander kaufen und verkaufen, und zwar an einem sehr konkreten Ort und im
Idealfall zu ersichtlichen Preisen. In dem neuen Markt sind die Hauptakteure
dagegen nicht Menschen, sondern die Algorihtmen, die ein Computerprogramm
ausmachen. Der eigentliche Handel spielt sich innerhalb der Computer ab, und
der alte Markt dient nur noch als Kulisse für Meldungen über das
Börsengeschehen.
Was die Preise betrifft, so verändern sie sich nicht nur,
wenn ein Abschluss getätigt wird. Wie Lewis darlegt, gibt es das zusätzliche
Problem der „dark pools“. Diese trüben Tümpel sind eine Art privater
Aktienbörsen – von denen die meisten großen Geschäftsbanken gehören -, deren
einzige Funktion darin besteht, Transaktionen jenseits der breiten
Öffentlichkeit durchzuführen: Niemand kennt die Käufer, niemand kennt die
Verkäufer, und niemand kennt die gezahlten Preise. Der Mensch, der Katsuyama am
meisten half, diesen neuen Markt zu verstehen, war der irische
Telekommunikationsingenieur Ronan Ryan, zu dessen Job auch die Installation der
Leitungsnetze in Börsengebäuden gehörte. Er machte Katsuyama klar, welche
entscheidende Bedeutung der Faktor Geschwindigkeit gewonnen hat. Alle
Börsenunternehmen räumen inzwischen privaten Firmen die Möglichkeit ein, ihre
eigenen Computer neben den börseneigenen Rechnern aufzustellen. Diese
„co-location“ verschafft den Gastfirmen einen winzigen zeitlichen Vorsprung.
Mit seinen Fachkenntnissen kann Ryan die riesigen weißen
Flecken in Katsuyamas Bild von den Finanzmärkten ausfüllen. Er erklärt ihm,
dass es auf Mikro- und Nanosekunden3 ankommt.
Michael Lewis bezeichnet die US-Börsen als ein „Klassensystem“, in dem die
Computergeschwindigkeit über die Gewinnchancen entscheidet: „Die Reichen
zahlten für Nanosekunden; die anderen hatten keine Ahnung, dass eine
Nanosekunde einen Wert darstelt. Die Reichen konnten sich ein perfektes Bild
vom Markt verschaffen; die anderen bekamen den Markt nie zu Gesicht. Der
vormals offenste und zugänglichste Finanzmarkt der Welt war zu einer
Veranstaltung verkommen, die der privaten Besichtigung eines gestohlenen
Kunstwerks glich.“
Der Faktor Geschwindigkeit ist so entscheidend, weil die
neuen Finanztechniken ganz gezielt winzigste, nur für Bruchteile von Sekunden
existierende Preisdifferenzen ausnutzen – und nicht nur ausnutzen, sondern
gelegentlich auch erzeugen. Denn Hochfrequenzhändler können dank ihrer
Co-location die Kauforders von Leuten wie Katsuyama „ausschnüffeln“: Innerhalb
von Mikrosekunden – also Millionstelsekunden – kaufen ihre Computeralgorihtmen
die Aktien, bevor die Orders ausgeführt werden, und verkaufen sie an den
ursprünglichen Käufer, womit sie einen winzigen, aber garantierten Profit
erzielen. Das erklärt, warum Katsuyama seine Aktien nicht zu dem Preis kaufen
konnte, der auf seinem Bildschirm angezeigt war. Hochfrequenzhändler waren ihm
„zuvorgekommen“ – weshalb diese Technik „frontrunning“ heißt.4
Frontrunning ist die wichtigste Methode, mit der im
Hochfrequenzhandel Profite gemacht werden. Zwei weitere Techniken, die Lewis
hervorhebt, sind “rebate arbitrage“ (Diskont-Arbitrage) und „slow market
arbitrage“. Bei ersterer profitieren die HFH-Unternehmen von der Tatsache, dass
einige Börsen heute für den Traffic, also die übertragene Datenmasse,
Provisionen zahlen. Auf die Slow-Market-Arbitrage setzen HFH-Firmen, die
winzige Verzögerungen bei den Preisbewegungen ausnutzen. Lewis nennt ein
Beispiel: Der Kurs für eine bestimmte Aktien steht bei 80 Dollar. An der New
Yorker Börse wird der Kurs durch eine große Verkaufsorder auf 79,99 Dollar
gedrückt. Hochfrequenzhändler kaufen in New York für 79,99 und verkaufen
blitzartig an allen anderen Börsen für 80 Dollar, bevor der neue Kurs offiziel
geworden ist. „So lief das Tag für Tag und rund um die Uhr und generierte mehr
Milliarden Dollar als alle anderen Börsenstrategien zusammengenommen“, schreibt
Lewis und macht klar, wie die neue Normalität der Aktienmätkte aussieht.
Die Publikationen von „Flashboys“ hatte eine explosive
Wirkung. Innerhalb einer Woche kündigten alle einschlägigen Instanzen in den
USA neue Untersuchungen über den Hochfrequenzhandel an: das Justizministerium,
das FBI, die Börsenaufsicht (SEC), die New Yorker Generalstaatsanwaltschaft,
die unabhängige Aufsichtsbehörde über die Future- und Optionsmätkte CFTC
(Commodities Futures Tradin Commission) – und dasselbe tat die Europäische
Union.
Diese Wirkung konnte nur Michael Lewis erzielen, und nur er
konnte ein solches Bild überhaupt schreiben. Seit einigen Jahren ist es immer
schwieriger geworden, überhaupt Zugang zu dieser „neuen“ Finanzwelt zu
erlangen, denn die Leute, die sich hier tummeln, haben gute Gründe, sich vor
genaueren Nachforschungen zu fürchten. Lewis konnte diese Leute nur zum
sprechen bringen, weil er früher selbst ein Insider war und versteht wovon sie
reden. Lewis nennt aber noch einen weiteren Grund: Seitdem die Institutionen
ihre Kontrollen und Verschwiegenheitsgebote verschärft haben, ist die
Einstellung vieler ihrer Mitarbeiter zynischer geworden – und entsprechend
größer ihre Bereitschaft, über die internen Abläufe zu reden, „solange ihre
Namen nicht auftauchen“. Nur der Insider Lewis konnte diese Leute, die
tatsächlich wissen, was Sache ist, zu derart ehrlichen Auskünften bringen.
Auftritt der Skalpierer
Die Flashboys selbst haben auf die Enthüllungen mit einem
interessanten Gegenangriff reagiert. Sie entwickelten vor allem drei
Argumentationslinien (auf den Versuch einer Schmutzkampagne gegen Katsuyama und
seine Motive will hier nicht weiter eingegangen werden): Die erste beruht auf der
Behauptung, der Hochfrequenzhandel sei ein wertvoller Beitrag zum
Marktgeschehen, da er für „Liquidität“ sorge. Dieses Stichwort warfen die
Wall-Street-Leute immer dann in die Runde, schreibt Lewis, „wenn sie das
Gespräch beenden, den Verstand ausschalten und alle Fragen abwürgen wollten“.
Liquidität auf Märkten bedeutet, dass es für alle potenziellen Transaktionen zu
jedem Zeitpunkt willige Käufer und Verkäufer gibt. Liquidität in diesem Sinne
gilt fast als das „absolut Gute“.
Mit der Auffassung, HFH sei eine echte Quelle von
Liquidität, macht Lewis allerdings kurzen Prozess, indem er eine hypothetische
Firma namens Scalpers Inc. (Skalpierer, im übertragenen Sinne: Spekulanten) ins
Spiel bringt, deren Beteiligung an allen Börsentransaktionen per Gesetz
vorgeschrieben ist: Wenn man irgendeine Aktie erwirbt, war die Firma schon da.
Als Frontrunner hat sie die Anteile schon vorher gekauft, um sie an dich
weiterzuverkaufen. Scalpers Inc. geht dabei keinerlei Risiko ein: Bei jedem
Verkauf oder Verkauf weiß sie über die andere Seite der Transaktion bereits
Bescheid. Sie agiert „einzig und allein mit dem Ziel, bei einem Deal
mitzumischen, der auch ohne sie ablaufen würde“.
Lewis zeigt mit diesem gedanklichen Experiment, dass
Scalpers Inc. dem Markt keine wirkliche Liquidität bringt, weil sie kein Risiko
eingeht. Sie ist kein „market-marker“, wie man die altmodischen Finanzinstitute
nennt, die Käufe und Verkäufe ermöglichen und damit den Fortbestand des Marktes
garantieren. Scalpers Inc. trägt dazu nichts bei und ist vielmehr „eine bizarre
Belastung des Markts“. Außerdem hat sie ein Interesse an erhöhter Volatilität,
weil sie von jeder Preisbewegung profitiert: Je mehr die Preise schwanken,
desto mehr Gelegenheiten bieten sich, an den Kursbewegungen zu verdienen.
So weit das Liquiditätsargument. Die Flashboys stellen zu
ihrer Verteidigung eine zweite Behauptung auf, die auf den allerersten Blick
sogar plausibel klingt. Sie verweisen auf die „Spreads“, also den Abstand
zwischen den Preisen, zu denen eine Aktie oder Anleihe gekauft und verkauft
wird. In dem oben genannten Beispiel ist der Spread die Differenz zwischen
80,00 und 79,99 Dollar. Dieser Spread ist der garantierte Profit für die Börse,
die das Papier handelt – und insofern eine Art Transaktionsgebühr oder -steuer auf alle Marktaktivitäten. Je
kleiner die Spreads ausfallen, desto preisgünstiger ist die Börse für die
Marktteilnehmer.
Die Hochfrequenzhändler rechnen sich die Tatsache, dass die
Spreads in den letzten zehn Jahren deutlich geschrumpft sind, als ihr eigenes
Verdienst an: Der Hauptgrund für diesen Trend sei die ungeheuere Ausweitung
ihrer superschnellen Transaktionen. In zugespitzter Form behauptet diese
Theorie, die Reduzierung der Spreads bedeute für den normalen Anleger eine
Ersparnis, die weit größer sei als die Profite, die sich die HFH-Meute
verschafft, indem sie bei Transaktionen anderer Leute Huckepack reitet.
Das Problem mit dieser Behauptung der Hochfrequenzhändler
ist allerdings, dass sie den Beweis schuldig bleiben, weil sie ihre Geschäfte
im Dunkeln betreiben. Es stimmt zwar, dass die Spreads nach und nach
geschrumpft sind, und zwar vor allem in den frühen nuller Jahren, als die
Computer das Börsengeschehen immer stärker dominierten. Und die Annahme ist
durchaus plausibel, dass dies zum sinken der Transaktionskosten, also auch zur
Reduzierung der Spreads beigetragen hat. Aus Sicht der Kunden ist ja genau dies
der eigentliche Sinn der Computerisierung. Doch die HFH-Leute beanspruchen das
als Verdienst allein für sich, ohne die geringsten Belege zu liefern, welche
Rolle sie bei diesem Prozess tatsächlich gespielt haben.
Die dritte Verteidigungslinie der Flashboys ist die
Behauptung, Frontrunning mache nur einen kleinen Teil ihrer Tätigkeit aus. Weil
dieses „Zuvorkommen“ offensichtlich nicht zu rechtfertigen ist, müssen sie das
natürlich sagen. Aber auch dieses Argument leidet unter dem Mangel an
gesicherten Daten. Die HFH-Meute spricht viel von „algo-sniffing“. Gemeint ist
das Bemühen, die Algorithmen konkurrierender Marktakteure auszuspähen, um
daraus selbst Profit zu schlagen. Diese Spionagetechniken sind jeweils
firmenspezifisch und streng geheim. Und genau deshalb können die HFH-Apologeten
nicht ins Detail gehen.
Andererseits stimmt es durchaus, dass die Geschäfte der
HFH-Industrie zu einem beträchtlichen Teil nicht in Frontrunning besteht und
dass man sie als legitime Aktivitäten sehen kann, mit denen sich gut
informierte Insider gegenseitig Geld abjagen. Und nach dem Motto „Big boys
don’t cry“ wird sich darüber keiner beschweren. Aber auch das ist alles so
geheim, dass die Branche sich nicht verteidigen kann. Lewis zitiert einen
Hochfrequenzhändler, der aus dem Pentagon, wo er Zugang zu streng geheimen
Vorgängen hatte, zur bekannten HFH-Firma Citadel Tactical Trading5 gewechselt ist: „Um ins Pentagon
und in meine Abteilung zu gelangen, musste man zweimal die Magnetkarte
durchziehen, erst um ins Gebäude zu kommen, dann um meine Abteilung zu
betreten. Und jetzt rate mal, wie oft ich die Magnetkarte zücken musste, um an
meinem Schreibtisch bei Citadel zu kommen? Fünfmal.“
Angesichts der trüben Informationslage muss sich der
Beobachter damit begnügen, den Flashboys von Weitem gnädig zuzuwinken, wie der
Papst den Pilgern von seiner Balustrade am Petersdom, und ihnen milde zu
konzedieren: „Möglicherweise ist einiges von dem, was einige von euch machen,
nicht total von Übel.“ Aber viel mehr lässt sich zur Verteidigung dieser Leute
mangels Beweisen, Daten und allgemeinen wie detaillierten Angaben schwerlich
vorbringen. Letztendlich liegt hier der klassische Fall vor, bei dem jegliche
Rechtfertigung aus zwei unterschiedlichen Gründen unmöglich ist: Jemand tut
etwas, das offensichtlich falsch ist. Und die Tat fällt unter ein selbst
auferlegtes Gesetz der Geheimhaltung.
Mit seinem Buch hat Lewis einen großen Felsbrocken mit einem
mächtigen Platsch in den HFH-Teich geschleudert. Und schon jetzt ist klar, dass
es in der Branche so nicht weitergehen kann. Bleibt die große Frage, was sich
ändern wird. Und vor allem: Wird sich, wenn sich etwas ändert, tatsächlich
etwas ändern?
Lewis setzt die Hoffnung vor allem auf seinen Helden, Brad
Katsuyama. Der kanadische Banker hat eine Aktienbörse namens IEX entwickelt,
die seit Oktober 2013 funktioniert. An der IEX werden alle Transaktionen mit
einer Verzögerung von 350 Mikrosekunden (0,00035 Sekunden) vollzogen. Das
bedeutet, dass sämtliche Käufe und Verkäufe in derselben Geschwindigkeit
stattfinden, wodurch Hochfrequenzaktivitäten wie Frontrunning nicht mehr
möglich sind. Wer eine Aktie an der IEX kauft, kauft auf saubere Weise: Wenn
man die Enter-Taste drückt, sieht man den Preis, den man auch zahlt.
Wenn sich dieses System durchsetzt, wofür es erste Anzeichen
gibt, werden die anderen Börsen entweder verdrängt, oder sie werden ihre
Abläufe so verändern müsen, dass die Kunden nicht mehr ausgebeutet werden
können – das ist jedenfalls die Idee. So sähe die Lösung für Marktpuristen aus,
und sie wären ein interessantes Gegenbeispiel zu der durch die Subprime-Kredite
ausgelösten Krise von 2007, die das ganze Finanzsystem erfasst hat. In diesem
Fall hatte der Markt ein Problem geschaffen, das er selbst nicht lösen konnte.
Stattdessen mussten die Steuerzahler zur Rettung einspringen und wurden
anschließend, als die Party wieder in Schwung kam, wieder hinauskomplimentiert.
Wenn Katsuyamas neues Börsenmodell mit dem
Hochfrequenzhandel aufräumen würde, wäre dies ein elegantes (und ziemlich
überfälliges) Beispiel für die Lösung eines Marktproblems mit Mitteln des
Markts. Die andere denkbare Lösung liefe über staatliche Regulierung, wobei der
Ansatzpunkt wäre, dass die in Lewis Buch beschriebenen Aktivitäten womöglich
illegal sind. Die HFH-Strategen haben ein Heer von teuren Anwälten eingekauft,
um sich bestätigen zu lassen, dass ihr Handeln rechtens ist. Aber ein Großteil
der gesetzlichen Regulierung der Märkte beruht auf dem Grundsatz, dass
Transaktionen illegal sind, wenn die einschlägigen Informationen nicht
öffentlich zugänglich sind. Liegt dieser Fall im juristischen Sinne vor, wenn
der angezeigte Preis nicht der wirkliche Preis ist? Davon würde ich ausgehen.
Wenn das Justizministerium es ebenso sieht, wird Blut fließen.
Sowjetisch geschulte Hochfrequenz-Hexer
Zudem besteht die Aussicht, dass neue Gesetze die Flashboys
an die Kette legen werden. Lewis ist kein Anhänger dieser Lösung, und zwar aus
einem guten Grund: Gerade der Gesetzgeber hat ja viele Möglichkeiten für den
Hochfrequenzhandel überhaupt erst eröffnet. Die Hauptsünde war das 2007 in
Kraft getretene Gesetz, auf dessen Basis das sogenannte Regulation Nation Merket
System (RegNMS) entstanden ist. Dieses durchaus gut gemeinte und vernünftig
aussehende Gesetzeswerk sollte – unglaublich, aber wahr – Börsenkunden vor
Frontrunning schützen. Die Grundidee war ein landesweit akzeptierter
Standard-Aktienkurs, der National Best Bid and Offer (NBBO). Dieser NBBO
spiegelt die Preise, die sich für eine Aktie an allen Börsen herstellen. Der
Mittelwert wird damit zum offiziellen Kurs.
Dagegen ist im Prinzio wenig einzuwenden. Das Problem ist
nur, dass die Technologie für die Ermittlung des NBBO lächerlich langsam
arbeitet. Der Prozessor der den offiziellen Preis errechnet, war gegenüber den
HFH-Computern um bis zu 25 Millisekunden im Verzug. Diese 0,025 Sekunden kommen – nach den Maßstäben des
Hochfrequenzhandels – einer geologischen Epoche gleich. Dieser unglaublich lahme Rechner hat
die moderne Form des Börsenhandels großteils erst hervorgebracht. Denn der
offizielle Preis wurde in der Regel so langsam und so spät ermittelt, dass die
schnelleren Marktteilnehmer geradezu eingeladen wurden, ihren Vorsprung
auszunutzen.
Das ist in der modernen Finanzwelt ein ständig
wiederkehrendes Muster: Der Gesetzgeber sorgt für immer neue, hochkomplexe
Regelungen, und diese Komplexität eröffnet die Gelegenheit für neue Profite.
Wenn man dann noch superschlaue Leute hat, für die es starke Anreize gibt,
jeden Tag und jede Stunde daran herumzutüfteln, wie man das System überlisten
kann, dann wird das System eben irgendwann überlistet. Im Übrigen hat Lewis
eine Erklärung dafür, dass es unter den Hochfrequenz-Hexern in den
Hinterzimmern der Unternehmen so zahlreiche Russen gibt: „Die kontrollierte
Wirtschaft zu sowjetischen Zeiten war fürchterlich und kompliziert und von
unzähligen Schlupflöchern durchsetzt. Alles war knapp; und alles war zu bekommen,
man musste nur wissen, wie.“
Die Aussichten auf eine gesetzliche Regulierung werden auch
dadurch getrübt, dass die Branche sich heftig widersetzt. Die EU hatte zum
Beispiel den Plan, den Hochfrequenzhandel auf ganz einfache Weise
auszutrocknen: Per Gesetz wollte man alle Transaktionen um eine halbe Sekunde
verzögern. Das ist, wie in Katsayumas IEX, ein brutales, aber wirksames Mittel,
mit dem die meisten der branchenüblichen Tricks auszuschalten wären. Leider hat
die europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (Esma) diese Idee
sogleich begraben und stattdessen angekündigt, bald einen eigenen Vorschlag zu
unterbreiten, der dann bis 2016 umgesetzt werden soll. Es ist zu hoffen, dass
alle, die mit diesem Esma-Projekt befasst sind, Michael Lewis gelesen haben.
Mit seinem Buch spricht dieser Autor indirekt eine Reihe von
Themen an, die über den Komplex Hochfrequenzhandel hinausweisen. Zum Beispiel
die Frage, inwieweit die Geschichte der Flashboys zugleich eine Geschichte über
das Wesen des modernen Kapitalismus ist. Paul Krugman hat in seiner
New-York-Times-Kolumne argumentiert, wichtiger als die von Lewis geschilderten
Details sei das von ihm gezeichnete große Bild eines dysfunktionalen und
räuberischen Finanzsektors. Die Debatte darüber, welchen Schaden der
Hochfrequenzhandel im Einzelnen anrichtet, findet Krugman unerheblich. „Es ist
die gesamte Finanzindustrie, und nicht dieser Teil, die unsere Wirtschaft und
unsere Gesellschaft unterhöhlt.“6
Lewis wäre mit der ersten Einschätzung wohl kaum einverstanden,
doch dem zweiten Satz würde er vermutlich zustimmen. Seine Geschichten zeichnen
ein Bild unserer Gesellschaft, das zunehmend düsterer wird.7 Im Vorwort zu seinem Buch über die
Subrime-Krise beschrieb er seine Gefühle beim Schreiben, als er die Wall-Street-Banken als
Poker-Spielhöllen schildert: „Ich hoffte, irgendein smarter Typ an der Ohio
State University, der eigentlich Ozeanograf werden wollte, würde nach der
Lektüre meines Buchs den Lockungen von Goldman Sachs widerstehen und sich doch
auf die weite See hinausgeben.“ Stattdessen fand sich Lewis sechs Monate nach
der Publikation „knietief in Briefen von Studenten der Ohio State University,
die wissen wollten, ob ich ihnen noch mehr Wall-Street-Geheimnisse verraten
könnte. Sie hatten mein Buch als Ratgeber gelesen.“
Als ich
„Flashboys“ gelesen hatte, musste ich unwillkürlich an diese verlorenen
Ozeanografen denken. Und an die verlorenen Computergenies und Ingenieure und
Physiker und Unternehmer, an die ganzen brillianten Köpfe, an ihre Leidenschaft
und Energie, an all das, was derzeit in einem schwarzen Loch verschwindet – für
immer verloren für die viel produktiveren und interessanteren Dinge, die wir
Menschen anpacken können. Man kann gar nicht anders, als einen schmerzlichen
Verlust zu empfinden, wenn man an all das denkt, was diese Leute
zustandebringen könnten, würden sie sich nicht hineinziehen lassen in das
Geschäft, das Geld zu noch mehr Geld macht.
Sollten wir jemals genug Distanz gewinnen, um aus einer
anderen Perspektive auf das Delirium der modernen Finanzgeschäfte
zurückzublicken, werden wir vor allem eines empfinden: eine tiefe Trauer über
die Vergeudung von Menschen und ihren intelektuellen Fähigkeiten. Ein zutiefst
deprimierender Befund, aber ich will mit einem anderen Gedanken enden. Die
Geschichte des Hochfrequenzhandels ist ungefähr dieselbe Geschichte, die auch
Thomas Piketty erzählt.8 Beide
großen Bücher über den modernen Kapitalismus erzählen uns, wie das Kapital
immer skrupelloser agiert und die Reichsten immer reicher werden.
Im Grunde kann man den Bericht von Lewis als Fallstudie zu
Pikettys Analyse über „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ lesen. Er würde nur
allzu gern glauben, schreibt Lewis, dass Leute, die so denken wie die
Flashboys, „am Ende ihre verdiente Strafe erhalten werden. Aber das ist nicht
der Fall. Sie werden schlicht immer reicher. Und die meisten von ihnen werden,
da bin ich mir sicher, dick und glücklich sterben.“
1 Charles P. Kindleberger, „Manien, Paniken, Crashs.
Die Geschichte der Finanzkrisen der Welt“, Kulmbach (Börsenmedien AG) 2001.
2 Michael Lewis, „Flash Boys – Revolte an der Wall
Street“. Frankfurt am Main (Campus) 2014.
3 Eine Mikrosekunde ist der millionste, eine
Nanosekunde der milliardste Teil einer Sekunde.
4 Der Economist vergleicht Flashtraders anschaulich mit
Leuten, die im Supermarkt Kunden mit Proben von Delikatessen ködern. Während
der Kund sich für das Produkt erwärmt, läuft ein Kollege zum Regal, um den
Preis heraufzusetzen, bevor der Kunde dort ankommt. Siehe The Economist, 5. April
2014.
5 Die Firma gehört zu dem Investmentunternehmen Citadel
LLC des Milliardärs Kenneth Griffith und hat seit 20078 einen Gewinn von über
300 Prozent erzielt. Siehe Bloomberg News, 11. April 2014: www.bloomberg.com/news/2014-04-11/citadel-fund-said-to-quadrulpe.with-high-frequenzy-trades.html.
6 Paul Krugman, „Three Expensive Milliseconds“, New
York Times, 13.April 2014.
7 Lewis
erstes Buch, „Liar’s Poker“ (deutsch: „Wall Street Poker“, Campus Verlag 1993),
erzählt von seiner eigenen Erfahrung als Bondverkäufer bei Salomon Brothers; in
„The Big Short“ schildert er, „Wie eine handvoll Trader die Welt verzockte“ (so
der deutsche Titel bei Campus, 2010).
8 Thomas
Piketty. „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, München (C. H. Beck) 2014. Siehe
auch Chandra Nair, „The Nature of Capital“ (in dieser Ausgabe, Seite 3).
Aus dem englischen
von Niels Kadritzke
John Lanchester ist
britischer Journalist, Schriftsteller und Autor von „Warum jeder jedem etwas
schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt: Die bizarre Geschichte der
Finanzen“, Stuttgart (Klett-Cotta) 2013, und des Romans „Kapital“, 2012.
Copyright London Review
of Books, Bd. 36, Nr. 11; für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatic,
Berlin.
Aus:
Le Monde diplomatique
Deutsche Ausgabe
Juli 2014
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