Türen gehen auf 4


Briefe an die Bewohner/innen einer Stadt
 
Von Gabriele Bösch 

In der Zwischenzeit, jenem Aufenthaltsort für Visionen, wie Daniela Peter in ihrem Antwortbrief meint, ist einiges geschehen. Viele Menschen haben mich angesprochen, ihr Gesicht trug ein strahlendes Lächeln – oder ein scheues, stilles Staunen.
Jene, die lächelten, bedankten sich herzlich für meine Briefe. Jene, die mir ihr Staunen schenkten, erzählten mir von ihrem Einsatz für diese Stadt und von den Verletzungen, die damit einhergegangen waren. Es lag kein Schimpfen darin, nein, eher eine leise Hoffnung, die noch stillere Frage: Verändert sich jetzt tatsächlich etwas? Ich möchte mich bei allen herzlich bedanken! Ich höre immer noch zu, denke nach und lande prompt noch einmal bei meinem Bild der Familie.

Aufeinander hören

Erinnern Sie sich an das Streitszenario, das ich an den Anfang meines letzten Briefes gesetzt hatte? (Ein Kind möchte ein eigenes Zimmer, andere sind nicht ganz damit einverstanden.) Ich habe viele solcher „Streitsituationen“ in unserer Familie erlebt und durchlebt und dabei eine Beobachtung gemacht. Wann immer ein Kind einen Wunsch formuliert, etwas einfordert, sind sofort die anderen zur Stelle, um zu erklären, warum das ungerecht sei. Daraufhin kommen andere Ungerechtigkeiten ins Spiel. Gings zuerst nur um ein eigenes Zimmer, geht´s später um die Aufgabenverteilung usw. Immer, immer kommen dann Verletzungen ans Tageslicht. Einer spricht im Zorn, der andere unter Tränen, und noch ein anderer kann kaum sprechen, so groß ist der Kloß in seinem Hals. „Wieso soll ich hier diskutieren, ich bin verletzt!“ Sie kennen diesen Satz sicher auch. Zuhören. Luft anhalten, bis alle Verletzungen auf dem Tisch liegen. Und immer, immer kommt dann der Moment, in dem alle schweigen, nachdem alle gehört wurden. Manchmal fragte ich mich, ob denn überhaupt etwas richtig lief bei uns. Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, zu vertrauen. Erst wenn allen klar wird, dass auch die anderen verletzt sind, dass alle da und dort Fehler machten, wenn sie nur auf sich selbst schauten, dann entsteht dieser Moment des gemeinsamen Schweigens. Tabula Rasa machen. Wer seine Verletzung aussprechen darf, öffnet sich, wird bereit, mit den anderen weiter zu gehen. 

Am Montag, dem 5.11., hatten wir eine Klausur in St. Arbogast. Die Frage war, wie kommunizieren wir diesen Visionsprozess nach außen, was brauchen wir dafür? Wie können wir einzelne Gemeinschaften, die eine Vision erarbeiten, unterstützen? Eine Art Werkzeugkoffer sollte entstehen. Wir arbeiteten in Gruppen und kamen ziemlich übereinstimmend zu ganz ähnlichen Ergebnissen. Wir brauchen einen Raum, formulierten wir, ein Visionscafé vielleicht, in dem Bürger sich treffen können, um sich auszutauschen darüber, wo denn nun die einzigartigen Talente unserer Stadt liegen. Ein Raum, der kostenlos gemietet werden kann. Ein Raum, in dem auch eine Projektlandschaft präsentiert werden soll: Schöne, ausgearbeitete Projekte, die im Laufe der Jahrzehnte in den Schubladen der Stadt verschwunden sind. Ehren, was schon da ist.
Es kam aber auch die Frage auf, ob in diesem Raum eine Art „Klagemauer“ entstehen soll – eine Wand, an der Bürger ihre Verletzungen deponieren können. An jenem Montag hatte ich Bedenken gegen diesen Vorschlag. Ich argumentierte, dass wir dann Gefahr liefen, den Fokus der Menschen wieder auf das Negative zu richten. Ich bin ja romantisch veranlagt, habe also lieber Briefe an Julia als Briefe an Badman.

 
Und doch. In den Gesprächen mit den Menschen spüre ich jetzt, sie sind da, diese Verletzungen. Sie müssen beachtet werden, sie müssen auf den Tisch. In einer Verletzung ist viel Energie gebunden – sie äußert sich in Form von Misstrauen und Verweigerung. Um gemeinsam ein Zukunftsbild für unsere Stadt zu erarbeiten, benötigen wir aber alle Energie!
Wie könnte eine solche Wand aussehen, frage ich mich. Soll sie aus Briefen bestehen oder aus Symbolen, Rosen vielleicht? Die Klagemauer in Jerusalem ist eigentlich eine Gebetsmauer. Die Briefe sind in Form von Bitten und Gebeten formuliert. Wäre es möglich, eine Verletzung umzuformulieren und sie in Form einer Bitte auszudrücken? Wie würde ich meine eigene, alte Verletzung als Bitte ausdrücken? Ich glaube sie lautete: „Ich wünsche mir, dass mündliche Verträge mit Vertretern der Stadt in Zukunft eingehalten werden.“ Hinter vielen Wünschen stecken Verletzungen, stelle ich fest. Wenn wir diese solcherart sammelten, durchaus anonym, als Bitte formuliert, dann ließen sie sich wohl zusammenfassen, präsentieren und verwerten für die Zukunft. 


Tatsächlich glaube ich jetzt, dass eine solche Wand Sinn machen würde. Eine Tafel. Eine Tabula Rasa. Man muss ein Gefäß leeren, um es mit Neuem füllen zu können. Wenn wir diesen alltäglichen Wünschen und Bitten einen Platz geben, wird Raum frei für die große Vision.
Ja, ein großes Plexiglasgefäß stelle ich mir vor, mit einem Schlitz wie bei einem Sparschwein. Ein Sparschwein, das wir später gemeinsam schweigend leeren. Und den zusammengefassten, präsentierten Inhalt legen wir bewusst auf unser Haben-Konto für ein lebenswertes Hohenems: Die Festschreibung unserer Werte. Neues Vertrauen ineinander. Glaubwürdigkeit.
Sie sehen, ich habe eine Vision: Hohenems wird die herzlichste Stadt Österreichs! 


Auszug aus einem Mail einer Bewohnerin an die Stadt Hohenems
 
Welch erfrischende und vor allem verständliche Art, eure Ideen, Vorhaben und Schwierigkeiten an die Frau/den Mann zu bringen! Gratulation an Frau Bösch und weiter so!

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