von Robert Menasse,
Die Universität Wien, die zweitälteste im ehemaligen Heiligen
Römischen Reich, die älteste und bis heute größte Universität im
deutschsprachigen Raum, hat eine großartige Geschichte.
Von
Zeit zu Zeit gab es kurzfristigen Niedergang aufgrund politischer
Interventionen, etwa durch die Theresianische Hochschulreform, die die
Freiheit von Forschung und Lehre radikal einschränkte und das Studium
straff verschulte, oder durch politisch motivierte
Aufnahmebeschränkungen oder Ausschlüsse von Studenten, zum Beispiel
während und nach der Türkenbelagerung, nach der Glaubensspaltung oder
nach dem „Anschluss“. Aber immer wieder erkämpfte sich die Alma Mater
Rudolphina Freiheit, Größe und Bedeutung zurück.
Die Gründungsurkunde der Universität, die sich bis heute im Archiv der Universität befindet und immer noch Leitbild der Alma Mater ist, oder wäre oder sein sollte, jedenfalls nie aufgehoben wurde, definiert in programmatischer Weise die Aufgabe der Universität: „...daz ein yeglich weiser mensch vernünftiger und ain unwaiser zuo menschlicher vernunft in rechte erkantnüsse bracht und geczogen werde.“ Die Tatsache, dass wir heute eine Regierung haben, die sich an einem Boulevard orientiert, der einen solchen Anspruch nicht verstehen kann, nicht nur weil er – höflich formuliert – eine etwas andere Orthografie verwendet, ändert an diesem Gründungs- und Daseinsanspruch der Universität nichts.
Ende
des 14. Jahrhunderts kamen Scharen von hochgelehrten Professoren der
Pariser Sorbonne nach Wien, weil sie lieber hier lehren und forschen
wollten, und sie wurden mit offenen Armen empfangen und eingestellt. Dem
päpstlichen Vorbehalt, dass doch nicht „yeglich mensch“ studieren könne
(und womöglich gar noch Theologie), wurde 1384 durch einen zweiten
Stiftsbrief begegnet, der die offene und freie Universität festschrieb,
worauf der Aufstieg Wiens zur bedeutendsten Universitätsstadt Europas
unaufhaltsam begann. Die Revolution von 1848, die die feigen Bürger
Wiens verloren, brachte einen Sieg der Wiener Universität, deren
Professoren und Studenten es gelang, alle theresianischen
Einschränkungen der Lehr- und Lernfreiheit abzuschütteln, wodurch Wien
wieder zum geistigen Zentrum des Kontinents wurde. Wer nach der
niedergeschlagenen Revolution nicht in die Neue Welt flüchtete, kam nach
Wien, um hier zu studieren oder zu lehren, und dass Wien damals
explizit Vorbild der europäischen und selbst der amerikanischen
Universitäten werden konnte, hat mit dem simplen Sachverhalt zu tun,
dass an der Uni Wien und in der Regierung (Minister Thun-Hohenstein)
Menschen am Werk waren, die die Gründungsurkunde der Alma Mater ernst
nahmen: „...dass menschlich vernunft wachse.... und ein yeglich
mensch... in rechte erkantnüsse bracht werde...“!
So könnte
man die Erzählung von den Glanzzeiten der Universität Wien fortsetzen
bis in die 70er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, als ich selbst
studierte: damals haben immerhin noch zwei Professoren der Alma Mater
Rudolphina den Nobelpreis erhalten. Wir gingen frei und selbstbewusst in
deren Vorlesungen, auch wenn wir andere Fächer studierten, waren
gleichermaßen stolz auf die Bedeutung unserer Lehrer, wie auch kritisch
gegenüber ihren Thesen, die wir in Frage stellten (was unser Recht und
unsere Aufgabe war), machten Zwischenrufe – und bekamen Antwort. Die
Glut, die damals in uns entfacht worden ist, hat uns lange erhitzt und
weit getragen.
Heute delirieren Politiker im Chor mit
Boulevard-Medien von Exzellenz-Unis, bei denen man nur Studiengebühren
und Zugangsbeschränkungen einführen, zugleich aus budgetären Gründen das
Toilettpapier auf den Uni-Toiletten einsparen müsse, und schon könnten
diese Unis geradezu serienmäßig Nobelpreisträger produzieren, und zwar
„shortly“... Nie war so utopisch wie heute, was noch vor einem
Vierteljahrhundert nicht bloßer Anspruch, sondern noch
Selbstverständlichkeit war. Aus einem Grund, der so simpel ist, dass man
nicht ein habilitierter Altphilologe sein muss, um ihn zu verstehen: er
steht in der Gründungsurkunde der Universität – und damals, als der
heutige Wissenschaftsminister noch studierte, wurde sie noch ernst
genommen.
Wenige Sätze wurden so geistlos interpretiert und
so lustvoll missbraucht wie Bruno Kreiskys Aperçu „Dankbarkeit ist keine
politische Kategorie!“
Kreisky besaß zwar im politischen Diskurs
die Meisterschaft, bei Bedarf selbst die Uhrzeit so zu verkünden, als
wäre sie jetzt ewig gültig - aber was man von ihm letztlich lernen
konnte (und daher berücksichtigen sollte, bevor man ihn geistlos
zitiert), ist, dass die Wahrheit nicht eine Tochter der Zeit, sondern
des Kontexts ist. Kreiskys Satz bezog sich auf das Wahlverhalten und
meinte, dass man mit der Dankbarkeit der Wähler, deren Interessen man
vertreten hatte, nicht mehr rechnen dürfe, wenn man beginnt, deren
Interessen zu verraten. Dankbarkeit für frühere Leistungen führe nicht
automatisch zur Zustimmung auch zu nachfolgenden politischen
Fehlentscheidungen. Er meinte definitiv nicht, dass man grundsätzlich
mit Undankbarkeit rechnen müsse, und selbst Dankbarkeit höchstens jenen
Lobbyisten erweisen sollte, die einen „anfüttern“. Das sollte man
mitbedenken, um folgenden Sachverhalt beurteilen zu können: alle
Akademiker in der gegenwärtigen Regierung haben gratis studiert, haben
in der Regel länger studiert, als es heutige Studienfristen erlauben,
sie hatten weder Barrieren zu überwinden, noch drop-out-Sanktionen zu
fürchten, sie sind gratis zur Uni und gratis von der Uni nach Hause
transportiert worden, sie haben durch das UOG Firnberg von 1975 die
Institutionalisierung studentischer Mitbestimmung erlebt,
beziehungsweise davon profitiert, sie haben zugleich mit ihrer
akademischen Ausbildung Erfahrungen mit politischem Engagement machen
und Demokratie einüben, letztlich ihre politischen Karrieren starten
können – und sie haben es durch diese Chancen, die ihnen gegeben waren,
bis auf Regierungsposten geschafft - wo sie, statt heute auf dem
Bauernhof der Eltern Kühe zu melken, nun staatstragend (und zwar den
Staat in den Abgrund tragend) sagen: So wie wir studiert haben, soll
keiner mehr studieren dürfen! Warum soll Studium gratis sein? Bildung
ist ein knappes Gut! Bildung ist teuer! Es muss Schluss sein mit dieser
Lässigkeit, mit der die Studierenden heute womöglich so viele Semester
benötigen, wie wir selbst seinerzeit. Für Gratis-Universitäten stehen
wir nicht zur Verfügung, sagen sie, und statt zurückzutreten, stehen sie
unbeugsam weiter zur Verfügung, um diesen Unsinn und diese
Undankbarkeit zu demonstrieren. Selbst der Wissenschaftsminister, der
sich bei verschiedenen Parteien inskribiert hatte, um zu studieren, wo
er größere Karrierechancen hat, verteidigt heute nicht die Universität,
nicht die Studierenden, wie es seine Aufgabe wäre, sondern gibt im
Wochentakt Interviews, in denen er den Satz „Es muss ja nicht jeder
studieren“ abwechselnd epikureisch und stoizistisch argumentiert, also
nicht nur den Anspruch der Gründungsurkunde der Universität, sondern
gleich auch die Philosophie- und Bildungsgeschichte verballhornt.
Der
einzige, der an einer offenen und freien Universität festhält, ist der
Kanzler – der sein Studium abgebrochen hatte. Österreich? Absurdistan?
Es
gibt ein einziges Argument gegen freie und offene Universitäten
(zumindest in Österreich): dass sie Karrierechancen auch solchen
eröffnet, für die „undankbar“ das einzige zutreffende Attribut ist, das
nicht eine gerichtliche Klage nach sich führt.
Durch die
schwarz-blaue Universitätsreform 2002 (in Kraft seit 2004) erhielt die
Universität ihre so genannte Rechtsfähigkeit, was gut klingt, de facto
aber bedeutet, dass aus einer staatlichen eine nur formal autonome, vom
Staat in ihren Strukturen zerschlagene, durch Finanzierungsdebatten
regelmäßig erpresste und schließlich im Stich gelassene Institution
wurde. Die Mitbestimmung von Studierenden und universitärem Mittelbau
wurde aufgehoben. Die Finanzierung wurde radikal gekürzt und auf diesem
evident viel zu niedrigem Niveau eingefroren: in den 70er Jahren belief
sich das Bildungsbudget auf 2% des BIP, heute sind es, selbst nach
einigen Rechentricks, nur noch 1,2%. (Die EU-Empfehlung hingegen wäre
2%, und sollte bis 2020 noch einen halben Prozentpunkt steigen!)
Minister
aller Ressorts begannen als Bildungspolitiker zu dilettieren und
nannten einmal diese, dann wieder jene Studienrichtung „Orchideenfach“,
verlangten von der nun „autonomen“ Universität größere Abhängigkeit,
nämlich von den Interessen der Wirtschaft, verwechselten unausgesetzt
Bildung und Ausbildung, und hielten ihre fortgesetzte Destruktion
universitärer Praxis für einen Beitrag zu mehr „Praxisbezug“ der
Bildungsinstitutionen.
Die Universitätsreform, die letztlich alle
Weichen stellte, die zur heutigen Misere führten, wurde von einem Rektor
administriert, der gegenüber der damaligen schwarz-blauen Ministerin
willfährig war, gegenüber der Vertretung der Studierenden aber autoritär
auftrat – genau so stellt man sich ja eine „autonome Universität“ vor!
- und der schließlich, um der studentischen Proteste Herr zu werden,
einen folgenschweren Tabubruch beging: er rief die Polizei in die Uni,
um Studierende aus der Uni entfernen zu lassen. In der mehr als ein
halbes Jahrtausend langen Geschichte der Wiener Universität gehörte es
zu ihrem Selbstverständnis und zum Stolz, Polizei und Militär den
Zutritt zu ihrem autonomen Freiheitsraum mit allen Mitteln zu
verwehren.
Im Jahr 1848 sind Rektoren und Dekane mit auf die
Barrikaden geklettert, die von Studenten GEMEINSAM mit ihren Professoren
und Dozenten gegen die Versuche der Polizei, auf der Uni wieder „Ruhe
und Ordnung“ herzustellen, errichtet wurden, und heute, ausgerechnet auf
der Basis einer gesetzlich festgeschriebenen Autonomie, wird die
Polizei in die Uni gerufen. Streng genommen müssten dem letzten und dem
gegenwärtigen Rektor nach dem Uni-Gesetz wegen groben Verstoßes wider
die akademischen Sitten die akademischen Titel aberkannt werden!
Heute
produziert die Universität Wien, was einmalig für eine Universität ist,
mehr Rätsel als Erkenntnisse. Wenn Studenten studieren wollen, dann
schafft die Universität Studienrichtungen ab. Wenn die Studierenden für
bessere Studienbedingungen demonstrieren, dann verlautet aus der
Uni-Leitung, es sei „unverständlich, was die Chaoten wollen!“ Dass
unverständlich sei, dass Menschen, die inskribiert haben, auch studieren
wollen, wird dann von den Medien publiziert, als wäre dieser
rätselhafte Sachverhalt ein wissenschaftlich belegtes Phänomen. Wenn
Professoren emeritiert werden, dann vermeidet die Uni, deren Lehrstühle
nachzubesetzen – bedroht aber die Studierenden mit drop-out, wenn sie in
einer gewissen Frist keine Prüfungen an diesen Lehrstühlen machen, die
vakant sind. Das Rektorat selbst vergisst alle Fristen, und allen
Anstand: wenn eine Professur ausgeschrieben wird und ein Dreiervorschlag
vorliegt, dann werden die drei Erstgereihten zu hearings eingeladen –
um danach nie wieder eine Information von der Uni zu bekommen, aber
vielleicht durch Zufall zu erfahren, dass der Lehrstuhl neu
ausgeschrieben wurde. Wer sich nun die Mühe macht, sich noch einmal zu
bewerben, darf diese Erfahrung wiederholen: hearing, dann Schweigen.
Seltsam, dass eine Institution ein Verfahren „hearing“ nennt, bei dem
sie sich taub stellt. Allerdings gibt es keinen Lehrstuhl für
„Anglizismen“. Und Kulturwissenschaften: vakant. Lateinamerikanistik:
vakant. Internationale Entwicklung: abgeschafft! Und so weiter.
Andererseits: der Rektor, der während der schwarz-blauen Jahre auf dem
Schoß der damaligen Ministerin saß, hatte seine Professur und danach die
höchsten Weihen erobert, ohne eine einzige wissenschaftliche Arbeit
publiziert zu haben. Rätsel über Rätsel.
Und der
Wissenschaftsminister gibt dem KURIER ein Interview (ausgerechnet dem
KURIER, dessen Chefredakteur gratis studiert hatte und der sich heute
als publizistischer Gunmen des Ministers immer wieder Leitartikel pro
Studiengebühren abmelkt), in dem er als Karikatur eines Basisdemokraten
auftritt und verkündet: er finde die Proteste und Hörsaalbesetzungen
mancher Studierenden „höchst unfair gegenüber der großen Mehrheit all
jener, die in Ruhe studieren wollen“!!
Und was bitte wollen die Studenten, die dagegen protestieren, dass ihre Studienrichtung abgeschafft wurde? Rätsel über Rätsel.
Manchmal
wenn ich an das Glück denke, das ich in meiner Studentenzeit hatte,
empfinde ich Dankbarkeit – und Mitleid mit jenen, die heute studieren.
Mitleid ist, wie auch Dankbarkeit, sehr wohl eine politische Kategorie.
Meine Dankbarkeit gegenüber der Alma Mater ermöglicht mir die Empathie
mit den heute Studierenden, die in politische Wut umschlägt.
Vielleicht
sollte man die österreichischen Universitäten einfach zusperren – und
allen, die studieren wollen, ein monatliches Stipendium von 1.500.- Euro
für ein Studium an einer guten ausländischen Universität bezahlen. Die
EU garantiert Studierfreiheit und Aufenthaltsrecht in allen
Mitgliedstaaten. Wer an der Sorbonne, oder an der Humboldt-Universtität
oder an der Universität Löwen oder wo auch immer inskribiert, bekommt
1.500.- Euro monatlich. Das würde am heutigen Stand der Studentenzahlen
etwa 1% des BIP kosten. Selbst wenn die Zahl der Studierenden 20%
steigen würde, wäre das Budget erst mit der Summe belastet, die heute
für die Bildungswüste in Österreich verbrannt wird. Der Staat bekommt
dafür Akademiker mit Abschlüssen an renommierten Unis, erspart sich die
Kosten für schlecht ausgestattete Unis und die Gehälter für Professoren,
deren Fachwissen nicht einmal ausreicht, um die Bedürfnisse und
Ansprüche der Studenten zu verstehen, und auch noch die Kosten für
Polizeieinsätze, und könnte noch aus der Wiener Hauptuni ein Museum
machen, mit blockbuster-Austellungen zur Wissenschaftsgeschichte – so
beeindruckend ist dieses Haus: wie die Pyramiden in Ägypten. Man zahlt
Eintritt und ist fassungslos, wie toll die Kultur war. Seinerzeit.
Ich träume vom Urlaub im 5 Sterne Hotel Südtirol <3
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